Ökologisch-demokratische Klassenpolitik.
Heinz Bierbaum und Michael Brie haben im ND eine Lanze für die Klassenpolitik gebrochen. Sie sei das Modernste, gewissermaßen Zukunftsgarantin einer starken LINKEN. Das ist zu begrüßen. Ich möchte das Diskussionsangebot aufgreifen, im Wesentlichen in Form kritischer Anmerkungen.
Ich möchte mit einer Übereinstimmung beginnen. DIE LINKE muss sich innerhalb der ökologischen Umbruchs- und Umbauprozesse beweisen. Kurz gefasst: Sozialistische Klassenpolitik muss in Zeiten der heraufziehenden Klimakatastrophe ökosozialistisch sein. Sie muss sich gegen die liberale Politik der Ampel wenden und zugleich eine glaubhafte Alternative zur antiökologischen AfD sein. Das sind im politischen Feld die beiden Hauptgegner, denen gegenüber eine sozialistische Alternative zu stärken wäre.
Der Kapitalismus zerstört nicht nur die sozialen und demokratischen Errungenschaften der Arbeiter:innenbewegung, er vernichtet auch unsere natürliche (Über-) Lebensgrundlage. SPD und Grüne, in noch rückschrittlicherer Form FDP und Unionsparteien, wollen Klimaschutzpolitik „mit dem Markt und den Konzernen“ machen. DIE LINKE muss Klimaschutzpolitik „gegen den Markt und die Konzerne“ betreiben. Und damit gegen die herrschende Oligarchie des fossilen Kapitalismus. Den größten Klimaschaden verursachen Konzerne, Angehörige der oberen Mittelschicht, Reiche und Superreiche. Die größten Opfer werden die Armen des globalen Südens erbringen (und tun es schon), aber auch die Angehörigen der Arbeiter:innenklasse in Deutschland. Wer die Klimafrage nicht stellt, kann in Zukunft keine zeitgemäße Klassenpolitik entwickeln. Eine solche Klassenpolitik muss rot sein, weil sie für eine Gesellschaft ohne Ausbeutung zu streiten hat; und sie muss grün sein, weil sie eine Wirtschafts- und Lebensweise (marxistisch: eine Produktionsweise) erfinden muss, die nicht die ökologische Lebensgrundlage der Menschheit zerstören wird. Und sie muss „von unten“ gemacht werden, weil sie die Interessen und Anliegen derjenigen in den Mittelpunkt zu stellen hat, die ausgebeutet (der Arbeiter:innenklasse) und beherrscht werden (der lohnabhängigen Mittelklasse). Aber natürlich heißt das zugleich – wie es immer in der Geschichte unserer Bewegung gewesen ist -, dass sich sozialistische Klassenpolitik auch in Reibung und Auseinandersetzung begeben muss mit Ausgebeuteten und Beherrschten, die das nicht wollen. Daran ist nichts neu. Den Kampf für das Wahlrecht hat die Sozialdemokratie im 19. Jahrhundert geführt, obwohl Teile der unteren Volksschichten monarchistisch eingestellt waren. Ihr Programm der Frauenbefreiung haben revolutionäre Sozialdemokrat:innen wie August Bebel oder Clara Zetkin verfolgt, obwohl das Patriarchat lebendig war in der Arbeiter:innenklasse.
Diese sozialistische Klassenpolitik wurde in den vergangenen Jahren in Ansätzen entwickelt – von einem strategischen Zentrum, das Brie und Bierbaum in der LINKEN nicht finden können. Es liegen Konzepte (z. B. verbindende Klassenpolitik), Kampagnenvorschläge vor, u. a. wurde eine Verkehrskampagne entwickelt und punktuelle umgesetzt. Bei der Strategiekonferenz der LINKEN 2020 wurde u. a. über die Anregungen des ehemaligen Vorsitzenden Bernd Riexinger diskutiert, die er für einen sozialistischen bzw. einen linken Green New Deal gemacht hat. Auch die ehemalige Vorsitzende Katja Kipping hat ein Büchlein dazu in die Debatte geworfen. Über alle das wurde in der LINKEN lebhaft diskutiert. Nicht alles fand Zustimmung, aber doch haben sich breite Mehrheiten für diese Ideen gefunden. Das hat sich auch in Parteitagsbeschlüssen und der Arbeit der Bundesvorstände niedergeschlagen. Erstaunlicherweise tun Bierbaum und Brie, aber auch die von ihnen lobend erwähnten Sprecher der BAG Betrieb und Gewerkschaft (Susanne Ferschl, Ulrike Eifler und Jan Richter) so, als hätte es das alles nicht gegeben. Das ist in hohem Maße fantasievoll. Aber ist es ein Zufall, Erinnerungsschwäche? Oder wird der Mantel des Schweigens darum gehüllt, um die Handlungsbedarfe zu übertreiben und nicht über die Opposition reden zu müssen, die sich innerhalb der Partei dagegen bildete? Denn die gab es ja. Die LINKE dürfe nicht grüner werden als die Grünen heißt und hieß es. Insbesondere aus der Bundestagsfraktion, von denen Teile sich weigerten, die politischen Beschlüsse der Partei zur Grundlage ihrer Arbeit zu machen. Daran entzündete sich enormer Streit. Einige Kristallisationskerne dieser Opposition sind just diejenigen, die gegenwärtig planen, eine eigene Partei zu gründen. Und natürlich muss sich die Partei für das eine oder andere entscheiden. Und sie hat sich entschieden.
Antirassistische Klassenpolitik und aktive Mitgliederpartei
Das Plädoyer von Brie und Bierbaum für Klassenpolitik hat zwei große Leerstellen, auf die ich kurz eingehen möchte. Sozialistische Klassenpolitik muss die Selbstorganisierung der arbeitenden Klasse in ihrer Gesamtheit in den Mittelpunkt der Politik stellen. In der heutigen Klassengesellschaft sind die untersten Etagen dieser Klassengesellschaft stark von Menschen mit Einwanderungsgeschichte bevölkert. Rund 25 Prozent der deutschen Bevölkerung blicken auf eine eigene Migrationsgeschichte zurück. In einzelnen Städten sind diese Anteile weitaus höher, in Mannheim zum Beispiel. Das stimmt auch, wenn man in bestimmte Wirtschaftsbranchen blickt. In der Fleischindustrie, aber auch in Lägern des Handels beispielsweise arbeiten sehr viele Menschen, die nicht hier geboren wurden oder deren Eltern oder Großeltern einwanderten. Das ist der Grund, weshalb in Zeiten des grassierenden Rassismus jede Klassenpolitik antirassistisch und internationalistisch sein muss. Die LINKE muss „migrantischer“ werden, wenn sie zeitgemäße Klassenpartei sein will. Antirassismus und Internationalismus sind deshalb nicht nur moralische (an Moral ist nichts Schlechtes, wie man meinen will, wenn man manchen Beitrag aus der Partei liest), sondern ganz materialistisch-handfeste Erfordernisse.
Aber eine Partei, die eine zeitgemäße sozialistische Klassenpolitik machen will, muss auch aktive Mitgliederpartei sein, die an realen Problemen ansetzt und in reale Kämpfe eingreift. Die Arbeiter:innenklasse ist in hohem Maße in sich differenziert, Verbindungen müssen aktiv hergestellt werden. Und das in einer Periode, in der Gewerkschaften seit Jahren in der Defensive gewesen sind. Deshalb ist Streikunterstützung von zentraler Bedeutung, aber auch Versuche der Partei, mit Stadtteilorganizing, Haustürgesprächen oder die Unterstützung der Kampagne Deutsche Wohnen Enteignen. Erwähnen möchte ich auch die Streikkonferenz der Rosa Luxemburg Stiftung, die einen Raum für die Vernetzung von kämpferischen und linken Kolleg:innen und Hauptamtlichen aus Betrieben und Gewerkschaften bietet. Das mag alles nicht reichen. Aber es sind wertvolle Ansatzpunkte, die weiterentwickelt werden müssen. Auch an dieser Stelle ist es allerdings wichtig etwas in Erinnerung zu rufen, das – warum? – bei Brie und Bierbaum völlig fehlt. Gegen beides, gegen die antirassistische Klassenpolitik als auch gegen das Konzept einer erlebbaren Mitgliederpartei regte sich eine innerparteiliche Opposition. Und wieder bereiten deren entschlossensten Teile gegenwärtig die Spaltung der LINKEN organisatorisch vor. Diese Debatten haben die Partei enorm polarisiert. Erinnert sich noch jemand an die Polemik Oskar Lafontaine gegen No-Border-Neoliberale? Oder die Weigerung Sahra Wagenknechts sich mit Menschen zu solidarisieren, die sich für Geflüchtete einsetzten – etwa, als Hunderttausende unter der Überschrift „Unteilbar“ für eine solidarische Willkommenskultur demonstrierten? Auch hier musste sich die Partei entscheiden – und sie tat es.
Die Geschichte der LINKEN, die ihrer Streitigkeiten und ihrer Krise, muss in der Tat materialistisch analysiert werden: Im Zusammenhang der Dreifachkrise des Gegenwartskapitalismus, der in ihm entstehenden Polarisierungen und Kämpfe. Sozialistische Strategie- und Programmbildung muss hier ansetzen. Dazu gehört ein Verständnis der schleichenden sozialen Krise in Deutschland, der Oligarchisierung der Politik, aber eben auch der migrantischen Neuzusammensetzung der Arbeiter:innenklasse, der rassistischen Gegenbewegungen in den Volksklassen, und der vielschichtigen Klimabewegung. Wer über die Krise der LINKEN und ihre mögliche Zukunft sprechen will, muss die unterschiedlichen Strategievorschläge analysieren und bewerten, die aufeinanderprallten. Wer sie verschweigt, trägt nicht zur notwendigen Klärung und Neuformierung der LINKEN bei.
Linkskonservativismus ohne Klassenperspektive
Da helfen auch keine Kunstgriffe, wie etwa, dass Michael Brie und Heinz Bierbaum augenzwinkernd erklären, die Klassenfrage sei etwas Konservatives – ein kleiner Brückenbau zu Wagenknechts Linkskonservativismus. Was genau aber soll am Klassenkampf nun konservativ sein? Damit wären wir beim Elefanten im Raum: Es hätte dem Beitrag von Bierbaum und Brie (die in der jüngeren Vergangenheit ihre Sympathien für Wagenknecht deutlich gemacht haben) gutgetan, hätten sie zumindest im Ansatz den wagenknechtschen Politikvorschlag kritisch beleuchtet. Man soll die Menschen ernst nehmen, insbesondere dann, wenn sie auf mehreren hundert Seiten ihre Vorschläge ausbreiten. In „Die Selbstgerechten“ fehlt jede Spur sozialistischer Klassenpolitik, es sei denn, man verwechselt sie mit Sozialpolitik. Jede sozialistische Politik muss den Um- und Ausbau des Sozialstaats verfolgen, aber nicht jede Sozialpolitik ist sozialistisch. Sozialistische Klassenpolitik stellt den Widerspruch zwischen den Klassen in den Mittelpunkt, sie baut auf die Triebkräfte des Kapitalismus, greift fortschrittliche Entwicklungen auf und treibt sie weiter (die Fugen des Kommunismus in der heutigen Gesellschaft, wie Louis Althusser das nannte), rechnet mit ihren Krisen und Verwerfungen der bürgerlichen Gesellschaft und arbeitet an einem gesellschaftlichen Bündnis, das die kapitalistische Ausbeutungsordnung überwinden will und kann: An Klassenmacht von unten. In der Strategie von Sahra Wagenknecht gibt es keine derartige Klassenperspektive mehr, sie kommt ganz ohne Klassenkämpfe aus, setzt auf Gemeinschaftsdenken. Ein Beispiel aus ihrem Buch: Den Sozialstaat sieht sie nicht als ein Ergebnis von Klassenauseinandersetzungen, die die nationale Gemeinschaft nun mal immer zerreißen, sondern als Folge nationaler Solidarität, nämlich Gegenseitigkeits- und Gemeinschaftssinns, der durch Zugehörigkeit genährt wird. Logischerweise stört da Neues und Fremdes.
Öffnung und Neubegründung der LINKEN: Aufgaben eines strategischen Zentrums
Eine letzte Bemerkung nun zum Plädoyer für ein strategisches Zentrum der Partei, das Brie und Bierbaum (aber vor ihnen auch Eifler, Ferschl und Richter) nirgends in der LINKEN finden können, das im Prinzip aber bereits bis zum Novemberparteitag 2023 entstehen soll. Ein strategisches Zentrum zeichnet sich nicht dadurch aus, dass möglichst breite Kompromisse geschlossen werden, die handlungsunfähig machen. Ein strategisches Zentrum muss lernfähig sein, Lust und Mut zur Initiative haben, es müssen politische Brückenbauer:innen dabei sein, es braucht eine offene Kultur der Debatte. Und in der Tat, es zeichnet sich durch Kompromissbereitschaft aus. Kompromissbereitschaft umfasst aber immer auch die Bereitschaft, Mehrheitsbeschlüsse respektvoll zu behandeln, wenn man selbst in der Minderheit ist. Natürlich lebt eine pluralistische, moderne Linke vom lust- und kulturvollen Streit. Aber wenn etwas entschieden ist, muss es auch Gültigkeit haben. Wenn das nicht so ist, gibt es keine Parteidemokratie, denn alle lustvolle Debatte ist völlig belanglos, jeder errungene Kompromiss zählt nichts, wenn danach alle machen, was sie wollen.
Es mag sein, dass meine Partei kein strategisches Zentrum hat, das so gut ist, wie es sein müsste. Da ich mich dem real existierenden Zentrum zurechne, will ich das gerne eingestehen – mir sind etliche Fehler bewusst. Aber: Über Jahre hat die LINKE ihre Politik mit breiten Mehrheiten entwickelt, auf Parteitagen und in Vorständen. Es gab lebendige Diskussionen, die mühevoll in Konsense übersetzt wurden (ob nun zur Klimapolitik, zur Migrationspolitik oder zur Friedenspolitik, mit der Brie und Bierbaum so unzufrieden sind). Dagegen hat sich eine kleine und nicht integrationswillige, weil nicht kompromissfähige Opposition herausgebildet. Verschieden zusammengesetzte Bundesvorstände haben es versucht – ohne Erfolg. Ein zukunftsfähiges Zentrum wird sich jenseits dieser Kräfte herausbilden müssen.
Der Parteitag im November wird ein Zwischenschritt sein, und auch eine Probe, ob es gelingen wird, ob es die Partei „nach Wagenknecht“ schaffen wird, gemeinsam zu lernen, Brücken in der Partei zu bauen und überzeugende politische Schwerpunkte zu setzen. Zur Wahrheit gehört aber auch: Die Partei wird sich schleunigst „in die Gesellschaft“ öffnen, mit enttäuschten Teilen der gesellschaftlichen Linken ins Gespräch kommen müssen. Sie muss politisch Heimatlose einladen, die durch den Streit der letzten Jahre abgeschreckt wurden und diesen auch ermöglichen, eine neue LINKE wirklich mitzugestalten. Die Aufgabe eines strategischen Zentrums wird es sein, hier eine Dialektik zwischen Kontinuität unserer bisherigen linkssozialistischen Partei und des Neuanfangs zu entwickeln. Genug zu tun also.