Meloni, mach die Häfen auf!
Ultrakonservative Ansichten: reaktionär, nationalistisch, migrant*innenfeindlich, homophob, so gestaltet sich die Politik der Autokrat*innen, die von europäischen Wähler*innen vermehrt in die Parlamente befördert werden. Die Arme recken sich zum römischen Gruß, die Enkel*innen Mussolinis werden ins römische Kommunalparlament und ins Europaparlament gewählt. Politiker*innen, die sich feministisch und sozialdemokratisch nennen, die sich christlichen und demokratischen Werten verpflichtet geben, gratulieren Giorgia Meloni zum Wahlsieg, als sei der Amtsantritt einer ultrarechten Ministerpräsidentin und ihres Kabinetts eine ganz normale Angelegenheit. Die dringend angebrachte Abgrenzung bleibt aus. Der Bundesvorsitzende der CDU fragt am 29. Oktober auf Twitter sicherheitshalber nach: „Glaubt irgendjemand, dass die Probleme in #Europa lösbar sind, wenn wir die Italiener ausgrenzen?“ Ja, genau die Ansicht vertritt jemand. Antifaschist*innen halten daran fest, nicht mit Faschist*innen zusammenzuarbeiten.
Die Ausgrenzung, die Friedrich Merz gegenüber Faschist*innen nicht aufzubringen vermag, fällt ihm umso leichter bei Menschen, die vor Krieg, Verfolgung, Armut und Tod fliehen und auf ihrer Flucht gefährliche und todbringende Routen wählen müssen. Statt sich für legale Fluchtwege einzusetzen, konstatiert Merz am gleichen Tag auf Twitter: „Wir werden keiner Politik die Hand reichen, die illegale Migration nach Deutschland legalisiert, indem sie neue Pull-Faktoren schafft.“ Damit normalisiert er zum wiederholten Male rechtsextreme Rhetorik, die den Mythos des Pull-Faktors heraufbeschwört, der sich vorrangig gegen die zivile Seenotrettung im Mittelmeer richtet und bisher in keiner dazu durchgeführten Untersuchung nachgewiesen werden konnte.
Diese Form rechter Rhetorik ist gefährlich. Sie verschafft den bürgerlich konservativen Volksparteien nicht mehr Wähler*innenstimmen, im Gegenteil, sie erleichtert ultrarechten Antidemokrat*innen den Weg in die Parlamente. Indem Vertreter*innen konservativer Volksparteien Europas die aktuelle Anti-Immigrations-Rhetorik der Ultrarechten übernehmen, machen sie sich zu Steigbügelhalter*innen erstarkender Neo- und Postfaschist*innen.
Europas Rassismus ist tief verwurzelt und unüberwunden. An den Grenzen der Festung Europa wird er so eindeutig und nachdrücklich sichtbar, dass es einen Aufschrei geben müsste. Die Friedensnobelpreisträgerin EU müsste uns ihre Werte ins Gesicht knallen angesichts der Verbrechen gegen die Menschlichkeit, die jeden Tag in unserem vollen Wissen an den EU-Außengrenzen vollbracht werden. Es wird kein Hehl daraus gemacht, dass Menschen, die über das Mittelmeer oder die Balkanroute zu uns kommen, in Europa nicht willkommen sind. Die Religion christlicher Nächstenliebe heißt auch in Europa längst: White Supremacy. Ihr Mitgefühl hört bei der Hautfarbe auf. Der Vorfall in Melilla zeigt: nur drei Monate nach den schrecklichen Geschehnissen sind sie fast vergessen und passiert ist: nichts.
Dass Menschen ein Recht auf Schutz und Asyl haben, ohne ihr Leben riskieren zu müssen, dass vor Zurückweisung an der Grenze jede Einreise individuell zu prüfen ist, dass es unsere Pflicht ist, Menschen aus Seenot zu retten, dass wir Menschen nicht in Länder abweisen, in denen ihnen Folter, Verfolgung und Tod drohen, diese Verpflichtungen werden einfach ignoriert, ob in Melilla, auf dem Mittelmeer oder an der polnisch-belarussischen Grenze.
Es wird offen in Geflüchtete erster und zweiter Klasse unterschieden. Christliche weiße Menschen, ja bitte. Schwarze, People of Colour, Muslime, nein danke. Fachkräfte, ja bitte, aber diese Leute da, die um Asyl bittend in ihrer Verzweiflung in seeuntauglichen Holz- und Schlauchbooten übers Meer kommen, sehen für Friedrich Merz sicherlich nach »Sozialtouristen« aus - wie eben jener auch die geflüchteten Menschen aus der Ukraine bezeichnete. Die aus Seenot Geretteten wollen hier sicherlich auf unsere Kosten Urlaub machen, jahrelang, eingesperrt, ohne Aufenthaltstitel und ohne Arbeitserlaubnis in abgelegenen Auffanglagern, Ankerzentren und Sammelunterkünften an Stadträndern oder in leergefegten Dörfern ausharrend. Womöglich integrieren sie sich noch, dann sind sie nicht mehr so leicht zu kontrollieren und/oder abzuschieben.
Zur Lage im Zentralen Mittelmeer
Giorgia Meloni, die neue Ministerpräsidentin Italiens und ihr Innenminister Matteo Piantedosi verweigerten Ende Oktober, unter Berufung auf das Prinzip des Flaggenstaates, im Mittelmeer aktiven zivilen Seenotrettungsschiffen wie der Humanity 1, der OCEAN VIKING, der Rise Above und der Geo Barents die Zufahrt zu italienischen Häfen. Die italienische Regierung übersandte zudem der Humanity 1 und der Geo Barents ein rechtswidriges Dekret, unterschrieben von Innenminister Matteo Piantedosi, Verteidigungsminister Guido Crosetti und Verkehrs- und Infrastrukturminister Matteo Salvini, in dem sie die Kapitäne der Schiffe dazu aufforderten, nicht länger als es für die gesundheitliche Notlage der Menschen an Bord notwendig sei, in italienischen Hoheitsgewässern zu verweilen. Die so herbeigeführte Verzögerung bei der Anlandung ist eine große psychische Belastung für die Menschen an Bord und verschlechtert die Lage der gesundheitlich angeschlagenen Geretteten.
Auf der Humanity 1 befanden sich mehr als einhundert Minderjährige, viele davon unbegleitet. Vor Italien warteten insgesamt etwa 1.000 Menschen auf einen sicheren Ort. Mit insgesamt 179 Geretteten an Bord und 21 Anfragen, wurde der Humanity 1 am 6. November als erstes der wartenden Seenotrettungsschiffe schließlich der Hafen von Catania zugewiesen. Doch durften dort, wie in dem zuvor erhaltenen Dekret angedeutet, nicht alle Geretteten von Bord gehen. 35 Menschen mussten auf dem Schiff bleiben. Die Seenotrettungsorganisation SOS Humanity geht gegen diese Verfügung nun mit rechtlichen Schritten vor. Auch der aktuelle Kapitän des Schiffes, Joachim Ebeling, teilte in einer Pressekonferenz im Hafen von Catania am 07. November mit, dass er gegen das Gesetz verstoßen würde, wenn er mit den an Bord befindlichen Überlebenden wegführe.
Das zentrale Mittelmeer gilt als eine der tödlichsten Fluchtrouten der Welt. Durchschnittlich ertrinkt alle fünf Stunden ein Mensch bei der Flucht über das Mittelmeer. Seit 2014 sind laut UNHCR nach heutigem Stand (7.11. 2022), bei dem Versuch Europa zu erreichen, mehr als 26.190 Menschen ertrunken oder verschwunden und die Zahl der Ertrinkenden nimmt nicht ab. 2021 starben 3.231 Menschen, die höchste Zahl seit 2016 und 2022 verloren bis Oktober bereits 1.747 Menschen beim Versuch der Überfahrt ihr Leben. Die Dunkelziffer liegt weitaus höher.
Dieser Zustand ist kein Unglück; dieser Zustand ist politisch gewollt. Der im Oktober 2022 geleakte OLAF-Bericht bestätigt, was Menschenrechts- und Seenotrettungsorganisationen seit Jahren beklagen: Die von der Europäischen Kommission eingesetzte und in Milliardenhöhe finanzierte Grenzüberwachungsagentur Frontex ist in illegale Rückführungen und Menschenrechtsverletzungen involviert. Dennoch wird die Organisation weiter als legitime Institution für die Grenzsicherung eingesetzt und finanziert.
Seenotretter*innen beklagen, dass sowohl Frontex als auch die zuständigen staatlichen Seenotrettungsleitstellen bei Notrufen nicht unterstützend und koordinierend wirken, sondern ihre Informationen an die sogenannte Libysche Küstenwache weiterleiten, also an Milizen, die durch europäische Mittel gestärkt werden, um Menschen auf der Flucht abzufangen, bevor sie in internationale oder europäische Gewässer gelangen. Die abgefangenen Menschen werden teils unter Androhung von Waffengewalt nach Libyen zurückgebracht, also in ein Land, in dem schwerste Verbrechen gegen die Menschlichkeit begangen werden. Zuletzt drohte die sogenannte libysche Küstenwache, das Sea-Watch-Aufklärungsflugzeug „Seabird“ abzuschießen.
Vor ihrem Amtsantritt kritisierte Annalena Baerbock noch die Zusammenarbeit der EU mit Libyen und sprach davon, illegalen Zurückweisungen an den Außengrenzen ein Ende zu bereiten. Mittlerweile werden weite Teile des Mittelmeers bis weit vor die europäischen Küsten vom Auswärtigen Amt als libysche Such- und Rettungszone anerkannt und die mit Hilfe von Frontex-Drohnen koordinierten Pull-Backs nach Libyen damit quasi legitimiert. Ein Treffen der Bundespolizei mit der libyschen Küstenwache Anfang Juli 2022 offenbart, dass Libyen für deutsche Behörden weiterhin ein legitimier Partner zu sein scheint. So viel zur Einhaltung der Völker- und Menschenrechte. Schäm dich, Deutschland! Schäm dich, EU! Meloni, mach die Häfen auf!