Oskar Lafontaine: Große Verdienste und groteske Austrittsgründe
Sein Austritt war Ausdruck einer lang andauernden Entfremdung
Oskar Lafontaine hat große Verdienste bei der Herausbildung und Entwicklung unserer Partei erworben. Vielleicht hätte es ohne ihn den Zusammenschluss von WASG und PDS zur Partei DIE LINKE nicht gegeben. Sein Eintritt in die WASG hat dem Projekt der Gründung einer gesamtdeutschen linken Partei einen gewaltigen Schub verliehen. Er hat frühzeitig erkannt, dass zwei getrennt antretende Parteien keine Chance gehabt hätten, in den Bundestag zu kommen.
Seinen Eintritt in die WASG hat er mit der Forderung des Zusammenschlusses beider Parteien verbunden. Bei der vorgezogenen Bundestagswahl 2005 erreichte die PDS, die ihre Liste für Mitglieder der WASG geöffnet hatte und noch 2002 mit dem Spitzenquartett Dietmar Bartsch, Ronald Claus, Petra Pau und Gaby Zimmer an der 5-Prozenthürde gescheitert war, mit 8,7-Prozent einen Wahlerfolg. Das Spitzenduo Lafontaine/Gysi hatte großen Anteil an diesem Erfolg. Die von beiden geführte Fraktion bildete in den folgenden Jahren das politische Zentrum der 2007 neu gegründeten Partei DIE LINKE. Deren Bildung geschah in einer Phase, in der viele Menschen genug hatten von den Zumutungen neoliberaler Politik.
Nachdem alle anderen Parteien die Agenda 2010 begrüßten und die rot-grüne Bundesregierung unter Gerhard Schroeder den bis dato größten Sozialabbau der Nachkriegsgeschichte vollzog, war DIE LINKE die einzige Partei, die den Neoliberalismus entschieden bekämpfte. Sie hatte mit ihren Positionen gegen Hartz IV, Rente mit 67, gegen Privatisierung und Deregulierung wichtige Alleinstellungsmerkmale. Ebenso mit ihrer klaren Haltung gegen Aufrüstung und Auslandseinsätze der Bundeswehr.
Lafontaine und der 2013 verstorbene Lothar Bisky führten als Vorsitzende die Partei bis 2010. Kurz vor der Bundestagswahl 2009 konnte DIE LINKE mit dem Spitzenkandidaten Oskar Lafontaine bei den Landtagswahlen im Saarland 21,3 Prozent erzielen. Dieses Ergebnis war eng mit der Person Lafontaine verbunden, der dort jahrelang u.a. als Ministerpräsident gewirkt hatte. Bei den folgenden Bundestagswahlen 2009 erzielte die Partei mit 11,9 Prozent ihr bis heute bestes Ergebnis.
Ein wesentliches Instrument und erfolgreiches Mittel ihrer damaligen parlamentarischen Arbeit war, durch nahezu deckungsgleiche Anträge mit dem SPD-Wahlprogramm, die Glaubwürdigkeit der Sozialdemokratie infrage zu stellen. Dieses Instrument funktionierte jahrelang ausgezeichnet. Lafontaine zielte aber nicht nur darauf, eine neue linke Partei zu bilden. Die Wahlerfolge der LINKEN sollten zugleich die SPD wieder nach links treiben.
Später wollte er, dass SPD und Linke sich vereinigen. Ende 2019 erklärte er in einem Interview mit dem Redaktionsnetzwerk Deutschland, eine Fusion von SPD und LINKEN für „wünschenswert“ - in Verkennung dessen, dass DIE LINKE längst zu einer eigenständigen sozialistischen Partei gereift war und mehr sein wollte als eine Art linker Flügel der Sozialdemokratie.
Bleibend und politisch bedeutsam sind allerdings einige strategische Linien, die unter dem starken Einfluss von Lafontaine zur Frage und Voraussetzungen von Regierungsbeteiligungen Eingang in das Erfurter Programm gefunden haben. Kein Sozialabbau, keine Privatisierungen, kein Personalabbau und keine Tarifflucht im öffentlichen Dienst sowie keine Regierungsbeteiligung für Aufrüstung und Kampfeinsätze der Bundeswehr. Sie waren eine Reaktion auf Regierungsbeteiligungen der PDS, insbesondere in Berlin, bei denen Wohnungen privatisiert, Personal abgebaut und massive Sparmaßnahmen mitgetragen wurden. Diese Haltelinien sind auch heute verbindliche Maßstäbe für Regierungsbeteiligungen. Diese klaren Linien hat die Partei Lafontaine zu verdanken – ein bleibender Verdienst.
Dass nahezu notgedrungen das politische Zentrum bei der Fraktion gelegen hat, die von Gysi und Lafontaine unangefochten geführt wurde, hatte auch mit der Schwäche der Partei zu tun. Sie war in großen Teilen der westlichen Bundesländer noch kaum existent, geschweige denn flächendeckend präsent. In den östlichen Bundesländern waren Mitgliederschwund und ein vergleichsweise hohes Durchschnittsalter in den 2010er-Jahren bereits sichtbare Realität. Die Frage des Parteiaufbaus lag jedoch nicht auf Platz eins der Prioritätenliste des Parteivorsitzenden Lafontaines.
Es waren aber nicht in erster Linie Fragen des Parteiverständnisses, die die Gegensätze nach dem Ausscheiden Lafontaines und Bisky als Vorsitzende offen ausbrechen ließen. Die Frage nach den Voraussetzungen für Regierungsbeteiligungen, Grabenkriege, zwischen Ost und West, ehemaligen WASG- und PDS Mitgliedern, wurden auf offener Bühne geführt und belasteten die Bilanz der nachfolgenden Vorsitzenden, Klaus Ernst und Gesine Lötzsch erheblich.
Zum Zeitpunkt des Göttinger Parteitages im Jahre 2012, in dessen Verlauf die zentralen Gründungsväter der Partei, Gregor Gysi und Oskar Lafontaine, auf offener Bühne gegeneinander standen, war die Partei nicht nur tief gespalten – sondern auch in den Wahlumfragen auf 4–6 Prozent abgesunken. Gregor Gysi sprach von Hass in der Bundestagsfraktion und Oskar Lafontaine warnte davor, das Wort Spaltung in den Mund zu nehmen. Nur etwas mehr als ein Jahr blieb der neuen Parteiführung, um die Bundestagswahlen 2013 vorzubereiten. Der Parteiführung mit den beiden neu gewählten Vorsitzenden, Katja Kipping und Bernd Riexinger, gelang es, die Partei wieder etwas zusammenzuführen. Bei den Wahlen erzielte DIE LINKE vor dem Hintergrund der Auseinandersetzungen mit 8,6 Prozent ein achtbares Ergebnis. Faktischer Spitzenkandidat und Zugpferd im Wahlkampf war Gregor Gysi. Lafontaine, der wegen einer Erkrankung bereits 2010 nicht mehr als Parteivorsitzender angetreten war, zog sich als Fraktionsvorsitzender ins Saarland zurück.
Entfremdung lag nicht an den sozialen Kernpunkten oder an mangelndem Einsatz für Lohnabhängige, Rentner*innen und Erwerbslose
Als Begründung für seinen Austritt gab Lafontaine „die schleichende Änderung des politischen Profils der Linken“ an. Sie wäre bereits ab 2015 zu einer Partei geworden, „in der die Interessen der Arbeitnehmer und Rentner und eine auf Völkerrecht und Frieden orientierte Außenpolitik nicht mehr im Mittelpunkt stehen“. „Nach dem sozialen Profil sollen jetzt auch noch die friedenspolitischen Grundsätze der Linken abgeräumt werden“ schrieb er. Beide Behauptungen sind falsch. DIE LINKE hat zu keinem Zeitpunkt ihr sozialpolitisches Profil aufgegeben. Im Gegenteil, erst in der Zeit nach Lafontaine wurden die sozialpolitischen Konzepte, wie z.B. zur Renten-, Steuer- und Gesundheitspolitik ausgearbeitet. Ebenso ein umfassendes Konzept zur Regulierung der Arbeitsbeziehungen, Stärkung der Flächentarifverträge und Gewerkschaften. Man möge hier nur einmal die Wahlprogramme von 2005 oder 2009 und die nachfolgenden miteinander vergleichen. DIE LINKE hat ab 2012 vielmehr ihr sozialpolitisches Profil geschärft und konnte nun weitaus präziser als in ihrer Anfangszeit angeben, wofür sie stand. Eben sowenig hat die Partei ihre friedenspolitischen Grundsätze und Positionen aufgeweicht. Einzelne Stimmen aus dem Reformerlager, die das forderten, hatten nie den Hauch einer Chance, dafür Mehrheiten auf Parteitagen zu erzielen. Deshalb ist es nahezu grotesk, mit dieser Begründung auszutreten, nachdem die Partei, die einzige ist, die vor dem Hintergrund des Ukrainekrieges geschlossen gegen Waffenlieferungen und Aufrüstung gestimmt hat und weiter stimmen wird.
Oskar Lafontaine weiß selbst, dass die Auseinandersetzungen zwischen ihm und der Parteiführung, die die Beschlüsse der Partei vertrat, andere sind. Die Gründe für die wachsende Entfremdung sind auf anderen Politikfelder zu finden. Vor dem Bundesparteitag im Sommer 2013 in Dresden wartete Lafontaine öffentlichkeitswirksam mit dem Vorschlag auf, den Euro als Währungssystem aufzulösen und zum alten Währungssystem mit nationalen Währungen im Euroraum zurückzukehren, das Auf- und Abwertungen nach gegenseitigen Absprachen ermöglichte. Auch wenn Lafontaine diesen Vorschlag mit der Lohndumpingpolitik Deutschlands begründete und damit gegenteilig als die wenige Monate vorher gegründete AfD, die Niedriglohnpolitik befürwortete, prägte die Schlagzeilen, dass AfD und Lafontaine raus aus dem Euro wollten. Dieser Vorstoß von Lafontaine war auch nicht mit der Parteiführung abgesprochen. Ich wurde lediglich von Lafontaine informiert als sein Vorschlag schon in der Welt war. Katja Kipping und ich waren als neue Parteivorsitzende - gerade ein Jahr im Amt - auf unserem ersten Parteitag öffentlich mit fast keinem anderen Thema konfrontiert, als mit Lafontaines Forderung nach dem Austritt aus dem Euro. Besonders solidarisch kann diese Vorgehensweise nicht bezeichnet werden. Der Versuch Lafontaines Vorstoß in einem Antrag beschließen zu lassen, wurde, auch nach einer Intervention von mir, vom Parteitag zurückgewiesen. Auch Gregor Gysi kritisierte den Vorstoß von Lafontaine in seiner Rede als Fraktionsvorsitzender. Lafontaine hingegen war weder Delegierter, noch hatte er eine Parteifunktion und demnach kein Rederecht. Er hat aber auch nicht versucht, sich zu Wort zu melden. Als ehemaliger Parteivorsitzender hätte ihm der Parteitag dieses mit Sicherheit nicht verwehrt. Vielmehr verließ er zusammen mit Sahra Wagenknecht den Parteitag, reiste ab und ward seither niemals mehr auf einem Parteitag gesehen.
Auseinandersetzung ging ab 2015 weder um Sozial- noch um Friedenspolitik, sondern um die Haltung zu Geflüchteten und zur Migration
2015 sind weit über eine Million Geflüchtete nach Deutschland gekommen. Waren sie zu Beginn willkommen, schlug die Willkommenskultur bei einem Teil der Gesellschaft um. Insbesondere die AfD, aber auch die CSU schürten kräftig gegen die Geflüchteten und machten Stimmung für Obergrenzen oder, wie die AfD für geschlossene Grenzen, und schnelle Abschiebungen. Nach den Vorfällen in der Silvesternacht in Köln 2015/2016, in der es Übergriffe gegen Frauen und gewalttätige Ausschreitungen von überwiegend migrantischen Jugendlichen gab, die medial gewaltig ausgeschlachtet wurden, äußerte die damalige Fraktionsvorsitzende, Sahra Wagenknecht, den Satz „wer Gastrecht missbraucht, hat Gastrecht verwirkt“. Damit löste sie eine massive Auseinandersetzung mit und in der Partei zur Frage der offenen Grenzen, der Willkommenskultur für Menschen in Not und des Verständnisses Deutschlands als Einwanderungsland aus. Sie geriet in offenen Widerspruch zu der Beschlusslage der Partei, die von der Parteiführung vertreten wurde. Im November 2015 forderte wiederum Lafontaine Kontingente, wenn auch auf europäischer Ebene. Faktisch bedeutete aber auch diese Forderung nichts anderes als Obergrenzen für Geflüchtete.
Außerdem brachte sie immer wieder die sozialen Interessen großer Teile der Bevölkerung gegen die Zuwanderung in Stellung. Noch am Tag der Bundestagswahl im September 2017 kritisierte die Spitzenkandidatin, Sahra Wagenknecht, die Geflüchtetenpolitik ihrer Partei. Und das, obwohl gerade ein gutes Wahlergebnis erzielt wurde. Lafontaine legte wenige Tage später nach und bewertete das Wahlergebnis der LINKEN bei Arbeitslosen und Arbeiter*innen als enttäuschend. Die Ursache sei die „verfehlte“ Flüchtlingspolitik der LINKEN sowie der anderen bisher im Bundestag vertretenen Parteien. „Eine linke Partei darf bei der Hilfe von Menschen in Not das Prinzip der sozialen Gerechtigkeit nicht außer Kraft setzen“ so Lafontaine (Taz vom 29.9.2017). Die Parteiführung wies diese Positionen strikt zurück und verteidigte das Wahlprogramm. Auch Gregor Gysi meldete sich zu Wort und schrieb im ND: „wenn man mehr soziale Gerechtigkeit will, darf man nicht gegen andere Arme, sondern muss man gegen ungerechtfertigten Reichtum kämpfen“.
Verbunden wurde die inhaltliche Auseinandersetzung von Lafontaine und der Fraktionsvorsitzenden Sahra Wagenknecht mit heftigen Angriffen gegen die Parteispitze. Sie mündete in einen mehr oder weniger offenen Machtkampf auf dem Parteitag 2018 in Leipzig. Die Delegierten stimmten nahezu einstimmig für die bisherige Linie der Partei. Das war sicherlich auch dem Umstand geschuldet, dass weder Wagenknecht noch ihre Anhänger*innen einen eigenen Antrag eingebracht hatten. Letzteres haben sie vermutlich aber auch des unterlassen, weil sie um ihre geringen Chancen, eine Mehrheit für ihre Position zu finden, wussten. Katja Kipping und Bernd Riexinger wurden erneut zu Parteivorsitzenden gewählt.
Unmittelbar nach den Bundestagswahlen erlebte die Partei einen Mitgliederzuwachs wie schon lange nicht mehr. Tausende überwiegend junge Menschen wurden Mitglied und wurden durch das hohe Wahlergebnis der AfD motiviert bei uns mitzumachen. Sie wollten etwas gegen die Radikalisierung von rechts unternehmen, gegen den grassierenden Rassismus und Aggressivität gegen Geflüchtete. Sie sahen zu Recht in der Partei DIE LINKE den natürlichen Gegner zur AfD. DIE LINKE genoss ein hohes Ansehen in der Geflüchtetenbewegung. Bei der Mobilisierung von 250.000 Menschen bei der Demonstration von Unteilbar in Berlin spielte die LINKE eine gewichtige Rolle. In dieser Zeit gab es schleichenden Zuwachs von Wähler*innen der Grünen, insbesondere in den Städten und urbanen Zentren.
Auf dem Höhepunkt des öffentlich ausgetragenen Streits kam der Mitgliederzustrom zum Stocken und die Grünen wurden mehr und mehr zu dem Gegenpol zur AfD. Eine Entwicklung, für die einige ihrer Führungskräfte sich höflich bei uns bedankten. Obwohl die Beschlüsse der Partei völlig eindeutig waren und diese auch von der Führung konsequent vertreten wurde, erschien DIE LINKE wegen ihres öffentlichen Erscheinungsbildes als inkohärent in einer Frage, die viele, überwiegend junge Menschen, politisiert hat. Das Konfliktfeld war dabei zu keinem Zeitpunkt die Bedeutung der sozialen Frage oder dass DIE LINKE sich weniger stark für die Interessen von Arbeiter'*innen und Rentner*innen einsetzten würde. Es war die politische Haltung zur Migration und Flucht. Der öffentlich ausgetragene Richtungsstreit, bei dem es im Hintergrund auch um die Art und Weise der Auseinandersetzung mit der AfD ging, hatte der Linken erheblich geschadet.
„Aufstehen“ – der gescheiterte Versuch einer sozialdemokratischen „Neugründung“
Wohl in keiner anderen Partei außer unserer wäre es möglich gewesen, eine unter dem Label Sammlungsbewegung daherkommende Organisierung durch zwei Fraktionsvorsitzende – Sahra Wagenknecht und Oskar Lafontaine – zu initiieren, ohne über dieses Vorhaben die Parteiführung zu informieren, geschweige es mit der eigenen Partei abzusprechen. Bereits in der Ausgabe des Spiegels im Januar 2018 wurde von Sahra Wagenknecht in einem großen Aufmacher-Interview die Notwendigkeit einer großen linken Volkspartei, die SPD und LINKE nicht wären, öffentlich vertreten. Die Spiegel Ausgabe erschien zeitgleich mit der Jahreskonferenz der Partei, auf der sich traditionell der Parteivorstand mit den Fraktionsvorsitzenden der Bundespartei und den Landes- und Fraktionsvorsitzenden der Länder trifft. An dieser Konferenz nicht teilgenommen hatten Lafontaine und Wagenknecht.
Am 4. August 2018 wurde die Internetseite „Aufstehen“ freigegeben. Begleitet von enormer medialer Aufmerksamkeit, wie sie die Partei kaum einmal in ihrer Geschichte erzielen konnte. Das setzte sich fort mit dem offiziellen Auftakt am 4.9.2018 in Form einer Bundespressekonferenz mit Sahra Wagenknecht, Bernd Stegemann, Ludger Volmer und Simone Lange. Dort wurde bekannt gegeben, dass innerhalb eines Monats sich 101.741 Personen als Interessenten auf der Homepage registriert hätten. Etwas später sollen es dann 167 000 gewesen sein. Angeblich seien 188 Ortsgruppen gegründet worden. Oskar Lafontaine unterstützte öffentlich die Initiative. In der Welt am Sonntag erklärte er am 4.8.2018: „Wir verstehen uns nicht als Partei, sondern als eine Bewegung, die eine inhaltliche Erneuerung der Politik in unserem Land anstrebt“. Später wurde aus dem inneren Führungszirkel herausgetragen, dass es sehr wohl Überlegungen zur Gründung einer neuen Partei gegeben hat. Das Gründungsdokument von „Aufstehen“ liest sich mehr oder weniger inhaltsgleich mit dem sozialpolitischen Programm der Partei DIE LINKE, reduziert auf Sozialstaat und Frieden. Das entsprach ungefähr der Vorstellung von Lafontaine von der Ausrichtung der LINKEN als linkssozialdemokratische Formation, bei der die Themen Ökologie, Minderheitenrechte und Kampf gegen rechts keine oder nur eine untergeordnete Rolle spielen.
Aufstehen sollte auf alle Parteien Druck machen und sich auch gegen die AfD richten. „Die AfD hätte die heutige Stärke nicht, wenn die anderen Parteien die sozialen Interessen beachtet und Renten und soziale Leistungen nicht gekürzt hätten“, so Lafontaine in der Welt vom 12.8.2018. Das Springer-Blatt zitiert ihn ergänzend: „In der Flüchtlings- und Migrationspolitik vertritt Lafontaine die Ansicht, die AfD zu schwächen, wenn man den Zuzug von Migranten einschränkt“.
Es gab keinen Dissens in der Partei, dass die soziale Spaltung und Ausgrenzung eine wesentliche Ursache für das Erstarken der AfD bildete. Aber hier gab es keine Monokausalität, wie Lafontaine sie nahelegte. Natürlich gab und gibt es weitere Ursachen, wie eine latente Feindlichkeit gegenüber Migranten*innen und Geflüchteten, Rassismus und rechte Ideologien, die abgerufen wurden. Außerdem führt die AfD einen Kulturkampf gegen alle emanzipatorischen Errungenschaften, gegen Feminismus, freie sexuelle Orientierung oder multiethnische Lebensformen. Deshalb bestand die Partei auf eine klare Abgrenzung gegen alle Formen von Rassismus und Rechtsradikalismus und ist bis heute Teil der Bewegungen gegen rechts und gegen Rassismus.
„Aufstehen“ selbst ist zu keinem Zeitpunkt eine soziale Bewegung geworden und über den Charakter einer Klickbewegung im Internet nicht hinausgekommen. Auch verspürten Grüne und SPD keinerlei Druck durch „Aufstehen“. Die einzige Partei, auf die sog. Sammlungsbewegung eine Wirkung ausübte, war DIE LINKE, die sich monatelang mit ihr auseinandersetzen musste. Die Partei hat keinerlei Stärkung erfahren, sondern in manchen Landesverbänden sogar erhebliche Spaltungsprozesse erlitten. Insbesondere in NRW, die noch anhielten, als die Bewegung mit dem Rückzug Wagenknechts aus der Führung Aufstehens im März 2019 offensichtlich gescheitert war. Lafontaine wollte das Instrument aber noch nicht ganz aus der Hand geben und erklärte in den folgenden Jahren wiederholt, dass Aufstehen noch lebe oder wieder neu belebt werden könne. Das war aber reine Projektion und hatte mit der Wirklichkeit nichts zu tun. Wer sich etwas auskennt mit der Entstehung und der Arbeit von sozialen Bewegungen wusste, dass aus diesem Projekt niemals eine entstehen kann. So ist es auch gekommen. Aber das Störpotenzial auf unsere Partei war enorm und hat der Parteiführung einiges abverlangt, um den Schaden zu begrenzen. Sahra Wagenknecht wiederum erklärte dann im März 2019, nicht mehr für den Fraktionsvorsitz zu kandidieren.
Die falsche Erzählung, DIE LINKE würde sich nicht mehr um die Belange der Arbeiter*innen und Rentner*innen kümmern
Aus dem Scheitern von „Aufstehen“ wurde jedoch nicht die Schlussfolgerung gezogen, dass die Verengung auf Sozialstaat und Frieden, also eine linkssozialdemokratische Verengung für DIE LINKE, keine ausreichende Perspektive eröffnet und die von der Parteiführung eingeleitete Verjüngung und der durchaus erfolgreiche Versuch, neue Bevölkerungsgruppen zu gewinnen, so falsch nicht war. Im Gegenteil, nahezu gebetsmühlenartig wurde die Erzählung aufgebaut, die Partei würde die Interessen von Arbeiter*innen und Rentner*innen vernachlässigen und sich mehr und mehr um die akademische Stadtbevölkerung kümmern. Gendersternchen würden mehr Bedeutung erlangen, als die sozialen Kernfragen. Mit der tatsächlichen Politik oder der Ausrichtung der Wahlkampagnen zu den Bundestagswahlen 2017 und 2021 hatte das nicht das Geringste zu tun. Vielleicht müsste eher die Frage gestellt werden, ob es im Wahlkampf 2021 richtig war, das durchaus wahlrelevante Thema Klimaschutz nicht zu einem weiteren Schwerpunkt gemacht zu haben.
An der sozialen Ausrichtung und den Schwerpunkten auf Löhne, Arbeitsbedingungen, Sozialstaat, Wohnen und Pflege hatte sich nichts geändert. Die zentralen Kampagnen der Partei waren „Pflegenotstand stoppen“ und „bezahlbare Miete, statt hoher Profite“. Der Begriff der Arbeiter*innenklasse wurde erweitert und an die heutige Zusammensetzung der Lohnabhängigen angepasst und als Reaktion auf die vielfältige Spaltung durch Prekarisierung und Deregulierung das Konzept der verbindenden Klassenpolitik entwickelt. Die Interessenvertretung der Beschäftigten im Bereich Paketzustellung, Logistik und Handel und der Einsatz für höhere Löhne und bessere Arbeitsbedingungen wurde zu einem weiteren Schwerpunkt, gerade weil die Bedingungen in diesen Sektoren Synonym für besonders ausbeuterische Verhältnisse sind. Die Frage ist natürlich trotzdem berechtigt, warum die Partei in diesen Wählergruppen nicht größere Wahlerfolge erzielen konnte. Von einer Vernachlässigung der Interessen der Lohnabhängigen kann jedoch keine Rede sein. Die auch von vielen Medien aufgegriffene Erzählung, DIE LINKE würde sich mehr um die Interessen und Bedürfnisse der privilegierten Akademiker*innen in den Großstädten kümmern, als um die der Arbeiter*innen und Rentner*innen hat jedoch in beide Milieus hinein geschadet. Die einen bekommen den Eindruck, die Partei will sie nicht, die anderen, die Partei tut nichts für sie. Solche unproduktiven Milieudebatten müssen wir uns in Zukunft ersparen.
Unrühmlicher Abgang
Es kommt in der Parteiengeschichte kaum einmal vor, dass jemand in zwei Parteien zum Vorsitzenden gewählt wurde und aus beiden Parteien ausgetreten ist. Es muss schon ein gehöriger Grad an Verbitterung vorhanden sein, wenn der Parteiaustritt kurz vor der Landtagswahl im Saarland öffentlich gemacht wird, in der Absicht, den Einzug in den Landtag zu verhindern. Zuvor hatte Lafontaine schon dazu aufgerufen, DIE LINKE im Saarland nicht bei der Bundestagswahl zu wählen. Lafontaine hätte durchaus als wichtiger Politiker in die Geschichte der Linken in Deutschland eingehen können, der den Grundstein für eine sozialistische Partei links der SPD im Parteienspektrum gelegt hat. Etwas, was in Europa nicht selbstverständlich ist. Eine Partei, die so sehr gebraucht wird, weil sie die einzige ist, die deutlich macht: Es gibt eine Welt jenseits des Kapitalismus. Durch seinen gewählten Abgang wird ihm diese Rolle in der Geschichte der Linken und der Arbeiterbewegung verwehrt bleiben.