Zur politischen Lage nach den Bundestagswahlen
- Ältestenrat
Im Rückblick auf die Bundestagswahl treten die Entwicklungstendenzen deutlicher hervor. Der Verzicht von Angela Merkel auf die weitere Führung der christdemokratischen Union und die nachfolgende Beendigung ihrer Regierungsverantwortung war ein tiefer Einschnitt in der gesellschaftlich-politischen Entwicklung der bundesdeutschen Republik sowie der europäischen Länder und des kapitalistischen Westens überhaupt.
Die entwickelten kapitalistischen Länder sind immer noch tief in die Bewältigung der gesellschaftlichen Folgen der Corona-Pandemie verwickelt; die tiefe wirtschaftliche Krise wurde neben administrativen Maßnahmen vor allem mit einer bisher beispiellosen Expansion des öffentlichen Kredits aufgefangen. Alle westlichen Länder müssen sich zudem bei auslaufender Pandemie mittelfristig auf eine Halbierung des Wirtschaftswachstums einstellen, was Konsequenzen für die angestrebten Sanierungsmaßnahmen hat. Außerdem zeigt die Aktualisierung der nationalen Aktionspläne zur Bekämpfung des Klimawandels, die 120 Länder laut UN vorgelegt haben, dass die bisherigen Maßnahmen zur Dekarbonisierung der Wirtschaften unzureichend sind.
Um die negativen Folgen aus diesen Entwicklungsprozessen abzufangen, stehen die kapitalistischen Staaten erneut vor der Notwendigkeit von umfassenden Strukturveränderungen der Wirtschaft, der Beschäftigungssysteme, sowie von Umbauten des Gesundheitsbereiches, der Schul- und Ausbildung und den aktuellen Rentensystemen. Der massive Anstieg der globalen Flüchtlings- und Migrationsbewegungen ist Ausdruck von unzureichenden sozialen Regulationen, die häufig durch rassistische und nationalistische Bewegungen geprägt sind. In der Folge der skizzierten globalen Umbrüche stehen auch die überlieferten politischen Bündnisse und Militärallianzen vor einem Umbau.
Bei der Bundestagswahl standen letztlich die Konzeptionen der Zukunftsgestaltung zur Abstimmung. Das Bündnis von CDU/CSU war bislang seit Jahrzehnten bei Bundestagswahlen erfolgreich und stellte vier Bundeskanzler und eine Kanzlerin. Keine andere Partei war in Deutschland so häufig an der Regierung beteiligt wie die Union. Zur Bundestagswahl 2021 schickten CDU/CSU Armin Laschet als Kanzlerkandidaten in den Wettbewerb um die Nachfolge von Bundeskanzlerin Angela Merkel, die die letzten 16 Jahre die Regierungen geführt hat. Neben der Verarbeitung des sich andeutenden Übergangs in die Oppositionsrolle, muss sich die Union nach dem Wahlergebnis auch als christliches Parteienbündnis neu erfinden. Bislang hat die Union kein überzeugendes Angebot für die Neuordnung der Gesellschaft, der internationalen Rolle der Berliner Republik und der Lösung der globalen Probleme.
Die Wahlergebnisse zeigen außerdem eine Aufwärtsbewegung der bundesdeutschen Sozialdemokratie. Auch bei den zeitgleich durchgeführten Landtagswahlen von Mecklenburg-Vorpommern und Berlin sehen wir diese Tendenz zu einer Erholung der SPD. Die Sozialdemokratie hat sich von ihrer früheren Konzeption der Einbindung in die neoliberale Ideologie (Neoliberalismus light) gelöst: Die Agenda-2010-Politik liegt 18 Jahre zurück. Teile ihrer Zukunftskonzeption wird sie im Bündnis mit den Grünen und Liberalen nicht einlösen können. Eine eigenständige Positionierung links von der SPD mit von ihr unterscheidbaren, sozialistischen Zielsetzungen wird daher weiterhin große Bedeutung haben.
Die AfD hat bei der Bundestagswahl hat 10,3% der Zweitstimmen erhalten. Sie lag damit unter ihrem Ergebnis von 2017. Damals hatten 12,6% der WählerInnen ihr Kreuz bei der neuen Rechten gemacht. KandidatInnen der AfD errangen diesmal 16 Direktmandate – alle in Ostdeutschland. Dort erreichte die Partei 19,1% der Stimmen und lag damit weit über den Ergebnissen in den alten Bundesländern, wo sie fast überall einstellig blieb. Diese krassen Unterschiede in Ost und West deuten darauf hin, dass es weiterhin einen tiefen politisch-gesellschaftlichen innerdeutscher Graben gibt. 60 Jahre nach dem Bau und 32 Jahre nach dem Fall der Mauer fallen die beiden Landesteile auch politisch deutlich auseinander. Im Westen der Republik hat die CDU trotz erheblichen Verlusten ihren Status als Volkspartei behalten können. Im Osten hingegen wurde sie deklassiert. Dort ist der Einbruch derart massiv und flächendeckend, dass nur ein Schluss möglich ist: Die Menschen in der ehemaligen DDR haben sich von der CDU abgewandt.
Die AfD gewinnt in Ostdeutschland viele Direktmandate und geht in Sachsen und Thüringen als stärkste Kraft aus den Wahlen hervor, in Brandenburg und Mecklenburg-Vorpommern landet sie auf Platz zwei. Der Kampf um die Demokratie, hat in den ostdeutschen Bundesländern damit noch mehr Schlagseite bekommen. Im Schnitt wählen im Osten prozentual mehr als doppelt so viele Menschen die AfD wie im Westen.
Die Linkspartei hat ihre einstigen Hochburgen in Ostdeutschland an die AfD verloren, weil sie politisch diesen Transformationsdefekt nicht mehr bearbeitet hat. Das charakteristische Defizit der vereinten PDS und WASG eine unzureichende gesellschaftlich-politische Verankerung in den alten Bundesländern wurde die Bundestagswahlen wiederum sichtbar; fakt ist zudem, dass die Hochburgen der Linkspartei in Ostdeutschland massiv geschliffen wurden.
Die soziale Teilung wird im vereinten Deutschland weiter verschärft werden und die soziale und politische Zweiheit im Deutschland der Nachkriegszeit wird nicht aufgehoben, sondern vertieft sich mit der Bundestagswahl 2021 noch weiter. Es war und bleibt ein schwerwiegender Fehler die Aufgabe der spezifischen politischen Auseinandersetzung mit der anhaltenden Diskriminierung der Bevölkerung in Ostdeutschland als langsam verschwindendes Problem einer >Ost-Identität< zu verniedlichen.
DIE LINKE steckt nach dem krassen Absturz bei der Bundestagswahl (millionenschwerer Stimmenverlust, die 5% Hürde mit 4,9% gerissen und nur dank dreier Direktmandate im Parlament) in einer existentiellen Krise.
Es vollzieht sich eine Veränderung im inneren politischen Kräfteverhältnis der BRD, die eine historische Bedeutung erhalten wird. CDU und CSU haben jetzt ihren Status verloren, der sie ab 1949 zu einer Ausnahmeerscheinung der europäischen Politik gemacht hat – als Bündnis, das fast immer alle anderen überragt hat. Die Union muss mit einem Ergebnis von erstmalig deutlich unter 30% das schlechteste Wahlergebnis der Nachkriegsgeschichte verarbeiten. Wie bei anderen bürgerlichen Parteien in Europa funktioniert die Klammer zwischen den mittelständischen Eigentümern und christlichen Sozialausschüssen nicht mehr, auch weil die christlichen Kirchen selbst in einer Krise von historischen Ausmaßen stecken. Die Union muss sich nach dem Wahlergebnis als christliches Parteienbündnis und als Partei der bürgerlichen Mitte in Absetzung von der FDP neu erfinden. Die Union als zentrale bürgerliche Partei hat bislang keine überzeugende Antwort für die Neuordnung der Gesellschaft und der Nationen in der Welt.
Zur Aufarbeitung der Niederlage und Konsequenzen für die Linkspartei
Der Wahlkampf der LINKEN wurde, trotz großer Ansage in einem umfangreichen Wahlprogramm, erneut von der bekannten Schwäche interner Auseinandersetzungen belastet. Die Debatten über Identitätspolitik und vermeintlicher Ausrichtung auf bürgerlich-liberale Wählerschichten (Life-Styl-Linke) verstärkten die politischen Defizite aus der unzureichenden politischen Analyse des gegenwärtigen Kapitalismus und des Wahlkampfes. Es gibt einen Zusammenhang zwischen Parteientwicklung, Verankerung in Gesellschaft, Gewerkschaften und sozialen Bewegungen und Wahlergebnissen. Die angestrebte Konzeption einer linken Mitglieder- und Bewegungspartei, die zu organisierender Arbeit, zu gesellschaftlichen Bündnissen und eigenen politischen Kampagnen in der Lage ist, hat vor allen in Ostdeutschland große Teile der Regionen nicht erreicht und blieb in Westdeutschland schon wegen schlechter organisatorisch-politischer Verankerung reine Papierform. Besonders wichtig wäre eine Strategie zur Gewinnung neuer Mitglieder im Osten, um den nach wie vor ungebrochenen Mitgliederschwund aufzuhalten. Eine solche Ausrichtung setzte allerdings die politische Verarbeitung mit den spezifischen Diskriminierungen voraus. Auch die meisten Landtagsfraktionen in Ostdeutschland weisen große Defizite im Ansprechen alter und neuer WählerInnengruppen auf. Denn die frühere Wählerschaft unserer Partei wurde zu beachtlichen Teilen nicht mehr erreicht.
Was bisher unter dem Zeitdruck der parlamentarischen Abläufe zur Konstituierung des Bundestages für die Fraktion geschehen ist, kann nicht Leitlinie für die Verarbeitung für die Parteiführung sein. Wir sehen keinen Ansatz zur Analyse der historischen Niederlage und können auch kein Angebot zur politischen Verarbeitung in den verschiedenen Parteiebenen erkennen. Die Summe der Maßnahmen, die bisher beschlossen wurden, weicht jedweder Analyse der politischen Situation aus und setzt darauf, dass die Anforderungen zu einer selbstkritischen Überprüfung der Konzeption der Parteiführung nach und nach in Vergessenheit gerät.
Eigentlich waren sich alle Führungskräfte am Wahlabend einig, es geht um eine tiefe Niederlage, wir stehen an einem Abgrund mit größten Gefahren für die Partei und Gesellschaft. Bisher zeichnet sich aber mehr ein „Weiter so“ ab als ein Neuanfang, der von allen Verantwortlichen propagiert wurde.
Ein Katalog von Maßnahmen für die Zusammenarbeit zwischen Parteivorstand und Fraktion bringt aber nicht die Lösung. Er kann die politischen Schwächen in der Führung mehr verdecken als er der Weg zur politischen Stärkung der Partei und in der Zustimmung ihrer Wählerschaft sein kann. Die ostdeutsche Frage sofort aufzunehmen und mit einer gemeinsamen von der Partei getragenen Zukunftskonzeption anzugehen, wäre eine Herausforderung, die Zeichen für einen Neuanfang setzen würde. Auch die Frage nach Krieg und Frieden mit allen Schärfen und Gegensätzen, ausgerichtet auf Bestrebungen der Friedensbewegung, gehört zu den Herausforderungen vor der DIE LINKE steht.
Entsprechend seines Satzungsauftrages war der Ältestenrat bemüht, am Prozess der Entscheidungen zur Bundestagswahl in der Partei mit seinen Überlegungen mitzuwirken. Der Ältestenrat hatte außerdem seine Bewertung und Auswertung der politischen Lage in einem schriftlichen Bericht festgehalten, der allen entsprechenden Gremien vorlag und der vom Vorsitzenden des Ältestenrates, Genossen Hans Modrow, im Rahmen der Debatte mündlich erläutert und ergänzt wurde.
Wir verweisen auf die zentralen Punkte der Argumentation des Ältestenrates:
- Der Bundesausschuss und der Ältestenrat haben seit längerem und wiederholt eine konstruktive Debatte mit klaren Entscheidungen zur Strategie und Parteientwicklung eingefordert. Die vorgelegten Analysen und Vorschläge lösten bei den Verantwortlichen des Vorstandes weder ein Interesse oder gar eine Bereitschaft zur Debatte aus.
- Der Vorsitzende des ÄR Modrow wertete diese Ignoranz als eklatante Verletzung der auch satzgemäß festgeschriebenen Regeln der innerparteilichen Demokratie. Ältestenrat und Bundesausschuss haben in der gesamten zurückliegenden Periode weder eine Zurückweisung der vorgelegten Vorschläge, noch eine konstruktiv-kritische Umsetzung feststellen können. Die innerparteiliche Kultur gebietet es, dass die verantwortlichen GenossInnen der Parteiführung nach der historischen Wahlniederlage zur Parteiklausur wenn schon keine Analyse so doch Thesen zur weiteren Zukunft der Partei- und Parlamentsarbeit vorlegen. Um es schnörkellos zu sagen: Neue Schwüre und Versprechen werden seit längerer Zeit gewachsenen Vertrauensverlust zur Führung und zu Führungskräften in der Partei nicht aufheben.
- Ausgehend von dieser Missachtung der Regeln ergebnisorientierter Führung und der Verletzung der innerparteilichen Demokratie stellte Hans Modrow den Antrag, die Inhalte, Bewertungen und Orientierungsaussagen der Berichte und Mitteilungen, sowie der Initiative für die Ausarbeitung einer Konzeption für Ostdeutschland, die der des Ältestenrates angestoßen hat, durch den Parteivorstand zu prüfen. Da der Vorsitzende des Ältestenrates wird vom Parteivorstand berufen wird, stellt Hans Modrow, verbunden mit dieser Prüfung, die Vertrauensfrage. Es geht bei der Klärung weiterer vertraulicher Zusammenarbeit mit den Parteiorganen Bundesausschuss und Ältestenrat nicht um Fragen der persönlichen Verärgerung oder Herabsetzung, sondern um die Prüfung wie gerade in höchst kritischen Zeiten die Aufgabe der Mitwirkung an der innerparteilichen Willensbildung umgesetzt und weiterentwickelt werden kann.
- Es sollte weiter geprüft werden, ob verbunden mit der Führungsarbeit und dem Generationenwechsel in der Führung und der Mitgliedschaft in der Satzung der Partei, der Beratungsauftrag für den Parteivorstand durch den Ältestenrat aufgehoben wird.
Denn die seit längerer Zeit geübte Praxis entspricht nicht den Erfordernissen einer innerparteilichen Demokratie. Ein Vorgang der mehr und mehr die politische Kultur der Partei berührt. - Wir erneuern in diesem Zusammenhang den Vorschlag zu prüfen, ob die Einberufung eines „kleinen Parteitages“ nach entsprechender Vorbereitung nicht der angemessene Weg sein kann, Auswege aus der tiefen Krise gemeinsam mit allen Parteiebenen zu entwickeln und voranzutreiben. Auch Regionalkonferenzen könnten im Vorfeld eine kritisch-konstruktive Arbeit leisten, die eine neue Qualität der Beziehungen zwischen Bund und Ländern, Kreis- und Basisorganisationen auslösen könnten.
Position des Ältestenrates der Partei DIE LINKE. Beschlossen auf seiner Beratung am 11.11.2021.