Die Menschen verschwinden einfach im Wald
Die Europäische Union handelt unverantwortlich
„Sie sagen, wir schützen unsere Grenze, aber vor wem? Vor Frauen, Kindern und Familien?“ Das fragte mich Mariusz, ein Aktivist von „Grupa Granica“, der sich seit Wochen um Geflüchtete an der polnisch-belarussischen Grenze kümmert, während meiner mehrtägigen Reise in das Grenzgebiet. Mariusz gibt alles, um Menschen vor dem Erfrieren und dem Verhungern zu retten. Männer, Frauen und Kinder – viele davon noch sehr klein. Wie zahlreiche andere Polinnen und Polen zeigt Mariusz Solidarität. Er stellt seinen eigenen Alltag zurück, seine Familie und seine Freunde, um das zu tun, was eigentlich Aufgabe der polnischen Regierung wäre: die grundlegenden Menschenrechte von denen zu schützen, die auf der Suche nach Schutz versuchen, in die EU zu kommen.
Mariusz übernimmt nicht nur Aufgaben, die eigentlich nicht seine sind. Er und seine Mithelfenden setzen sich damit auch massiven Stigmatisierungen aus. „Vaterlandsverräter“ werden sie genannt und von Rechten beschimpft. Die polnische PiS-Regierung tut so, als müsse sie einen „Abwehrkampf“ führen, den hilfsbereite Menschen wie Mariusz stören. Die Regierenden in der EU und ihren Mitgliedstaaten reden nur von der „Erpressung“ durch Lukaschenko – und erwähnen die Menschen, die dort im Kalten, ohne ausreichend Trinkwasser, Nahrungsmittel, Medikamente und ärztliche Versorgung sitzen, noch nicht einmal. Ganz im Gegenteil: der geschäftsführende Außenminister Heiko Maas und der geschäftsführende Innenminister Horst Seehofer wiederholen gebetsmühlenartig, man solle niemanden „reinlassen“. Sie plädieren dafür, diese Menschen in Kriegs- und Krisengebiete zurückzuschicken. Und sie akzeptieren die illegalen, gegen die Genfer Flüchtlingskonvention verstoßenden Pushbacks, in denen polnische Soldat:innen auch Kinder und Schwangere wieder zurück über den Zaun auf belarussisches Gebiet werfen. Ihre viel beschworenen Werte treten sie selbst mit Füßen.
No-Go-Area direkt an der Grenze ist eine Schande.
Die von der polnischen Regierung geschaffene No-Go-Area direkt an der Grenze ist eine Schande. Weder Journalist:innen, Menschenrechtler:innen und internationale Beobachter:innen noch humanitäre Organisationen und medizinisches Personal werden hineingelassen. Ich hatte im Vorfeld meiner Reise über das Auswärtige Amt einen Antrag an die polnische Regierung gestellt, mich hineinzulassen. Er wurde unter Verweis auf die „aktuelle Lage“ abgelehnt, wir konnten nicht hinein und wurden stattdessen auch außerhalb der Sperrzone, in der seit Wochen der Ausnahmezustand herrscht, von vermummten Polizisten kontrolliert. Der Flüchtlingshelfer Mariusz sprach mir gegenüber völlig zu Recht von einer „rechtsfreien Zone“. Wer dort hineingerät, kann auf Hilfe oder die Umsetzung von Recht kaum noch zählen. So erreichte mich etwa eine Woche vor meiner Reise ein Hilferuf von Flüchtlingshelfern:in Deutschland subsidiär Schutzberechtigte hatten sich in Belarus aufgehalten und sollten jetzt aus der polnischen Grenzzone nach Belarus abgeschoben werden. Ihr Aufenthaltstitel für Deutschland war entweder nicht geprüft worden oder spielte für die Beamt:innen vor Ort einfach keine Rolle. Ich habe mich selbstverständlich umgehend an die Deutsche Botschaft gewandt. Aber solche Möglichkeiten haben viele Menschen vor Ort nicht! Und das Asylrecht, die Genfer Flüchtlingskonvention scheinen genauso wenig eine Rolle zu spielen wie die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte, in deren Artikel 14 es heißt: „Jeder Mensch hat das Recht, in anderen Ländern vor Verfolgungen Asyl zu suchen und zu genießen.“ Anstatt den Flüchtlingen zumindest einen Asylantrag zu ermöglichen – denn es ist nicht wahr, dass alle direkt nach Deutschland wollen, viele möchten auch in Polen Asyl beantragen – verhindern die „Grenzschützer“ dies. Mir wurde berichtet, dass Aktivisten von Geflüchteten separiert wurden, weil sie Stifte und Formulare für Asylanträge in der Hand hielten.
Ich habe auf meiner Reise Menschen wie Mariusz getroffen, für die es eine Selbstverständlichkeit ist, Menschen in Not zu helfen. Begleitet hat mich Axel Grafmanns von „Wir packen´s an – Nothilfe für Geflüchtete e.V.“. Er war nicht zum ersten Mal vor Ort, um zu helfen. Es haben sich spontan neue Gruppen vor Ort gegründet, als sich die Situation an der Grenze zuspitzte. Aber auch etablierte Organisationen wie das Polnische Rote Kreuz versuchen immer wieder, Zugang zur Sperrzone zu erhalten. Da dies nicht genehmigt wird, packen sie Hilfspakete und versuchen, diese über Kontakte in der Sperrzone an die Notbedürftigen weiterzuleiten. Ich war beeindruckt vom selbstlosen Einsatz dieser Menschen. 80 Prozent der Spenden, der Kleider, Lebensmittel, Medikamente und Decken stammen von der lokalen Bevölkerung. Auch der Bürgermeister von Michalowo, als einer der wenigen politisch Verantwortlichen, setzt sich mit Nachdruck dafür ein, dass den Geflüchteten humanitäre Hilfe zukommt.
Die Helferinnen und Helfer berichten, dass weit mehr Menschen gestorben seien als es die offizielle Zahl von dreizehn Menschen glauben machen sollen. Die Menschen verschwinden einfach im Wald oder in den Sumpfgebieten, so wurde mir berichtet. Helfer:innen haben selbst Leichen gefunden, wie viele tatsächlich gestorben sind, wird man vielleicht nie erfahren. Manchmal gelingt es ihnen, jemanden zu retten. Wie einen jungen Kurden, den sie im Wald fanden, ihn zunächst mit ihren eigenen Körpern wärmten und dann mit einer schweren Lungenentzündung ins Krankenhaus brachten. Aber natürlich finden sie nicht jeden und bei schon jetzt 10 Grad Minus nachts wird es immer lebensgefährlicher.
Die EU, Polen und Deutschland handeln unverantwortlich
Die Position, auf der sich die EU, die polnische Regierung und auch die Bundesregierung festgesetzt haben, ist unverantwortlich. Ja, vielmehr: sie tötet. Es steht doch außer Frage, dass Lukaschenko ein Autokrat ist, der sich in gefälschten Wahlen hat „wiederwählen“ lassen. Und ja, er instrumentalisiert schutzsuchende Menschen für seine politischen Zwecke. Er hat sich ein Beispiel an Erdogan genommen, der die Achillesferse der EU, die immer noch keine Lösung für eine gerechte Verteilung Geflüchteter auf die Mitgliedstaaten gefunden hat, entdeckt hat und ausnutzt. Lukaschenko hat die Geflüchteten an die Grenze gelockt und in diese ausweglose Situation gebracht, in der sie weder vor noch zurück können. Aber dürfen jetzt diese Menschen ein zweites Mal bestraft werden? Dürfen wir sie verhungern und erfrieren lassen, um „uns nicht erpressen zu lassen“? Die Antwort ist ein entschiedenes Nein. Selbstverständlich haben wir die Verpflichtung, sie zu versorgen und auch, sie aufzunehmen. Jeder/r von ihnen hat das Recht, einen Antrag auf Asyl zu stellen, der dann auch geprüft wird. Und wir dürfen uns nicht der Demagogie der polnischen Regierung, der AfD, aber leider auch anderer im Bundestag vertretener Parteien hingeben, diese wenigen Tausend Menschen würden die EU destabilisierten. Ich erinnere an Mariusz, der mich fragte, vor wem die Grenze geschützt werde – „vor Frauen, Kindern und Familien?“ Schützen sollten wir uns vor dem Verlust der letzten Werte, wenn wir nicht sofort dafür sorgen, dass humanitäre und medizinische Hilfe in der polnischen Sperrzone zugelassen und internationale Beobachter:innen und Journalist:innen hineingelassen werden.
Diese Menschen flüchten vor Kriegen, viele davon von der Nato zum Zweck des Regime-Change geführt, sie fliehen vor Rüstungsexporten aus den westlichen Industrienationen oder vor der Zerstörung ihrer Umwelt. Die ungerechte Weltwirtschaftsordnung hat ihre Lebensgrundlagen zerstört. Viele mussten wegen der Invasionstruppen Erdogans, also den Truppen eines Nato-Mitglieds, ihre Heimat Nordsyrien und Nordirak verlassen. Es gibt unter ihnen zahlreiche Jesidinnen und Jesiden, denen durch den sogenannten Islamischen Staat bereits unvorstellbares Leid zugefügt worden ist. Für die Gründe, aus denen sie fliehen, sind die westlichen Industrienationen maßgeblich mit verantwortlich. Sie müssen endlich beginnen, Fluchtursachen zu bekämpfen statt Geflüchtete!