Chiles Linke im Aufwind
- Francisco Alvarez
Die Wahlen Mitte Mai in Chile sind eine historische Zäsur – sie sind die wichtigsten demokratischen Wahlen in Chile seit dem Referendum im Jahr 1988, das die chilenische Diktatur schlussendlich beendete.
Durch den damaligen Volksentscheid begann in Chile ein Prozess des demokratischen Übergangs, jedoch fand dieser viele Jahre lang kein Ende. Der von den Eliten ausgehandelte Konsens erfüllte gerade so die Mindeststandards für eine Demokratie. Zudem wurden unter dem Vorwand, politische Stabilität zu wahren, soziale Organisationen und die Gesellschaft von der Politik ausgeschlossen.
Die Einmaligkeit dieses Prozesses wurde vor allem durch das politisch-historische Projekt zwischen der Sozialistischen Partei und der Christdemokratie geformt. Das Bündnis etablierte eine "Politik der Vereinbarungen" mit der politischen Rechten, zu denen die Partei Nationale Erneuerung und Unabhängige Demokratische Union zählen. Gleichzeitig förderte dieser Zusammenschluss neoliberale Reformen, durch die Wirtschaftsmächte zunehmenden Einfluss in der chilenischen Politik erhielten, da die Politik durch sie kolonisiert worden ist.
Diese alte Ordnung der Übergangspolitik wackelt nun schon seit einigen Jahren und die Wahl vom vergangenen Wochenende versetzte ihr einen weiteren schweren Schlag. Es gibt Anlass zum Optimismus und wir hoffen, dass der neoliberalen Politik der letzten 30 Jahre endliche ein Ende gesetzt wird.
Links wählen im Trend
Die Chilen*innen konnten an diesem Wahlwochenende gleich viermal ihre Stimmen abgeben, da die Bürgermeister*innen-, Kommunal- und Regionalwahlen gleichzeitig stattfanden. Außerdem wurden die Delegierten für die Verfassungsgebende Versammlung gewählt, die wichtigste Wahl an diesem Tag, denn die Versammlung wird den Entwurf für eine neue Verfassung erarbeiten. Daher ist ihre Zusammensetzung entscheidend.
Es ist wichtig, die Ergebnisse im Kontext des jüngsten Wahlzyklus zu analysieren. Dieser Zyklus begann mit dem Referendum am 25. Oktober 2020 und endet mit den Präsidentschafts- und Parlamentswahlen Ende des Jahres. Zwar ist es noch ein langer Weg bis dahin, jedoch zeichnet sich eine Verschiebung der politischen Wahlpräferenzen der Chilenen bereits jetzt schon ab. Dabei sollte aber die sehr niedrige Wahlbeteiligung von gerade einmal 43 Prozent nicht vergessen werden.
Noch nie haben seit dem Ende der Diktatur so viel mehr Menschen links (in ihren verschiedenen Varianten) gewählt, als rechts oder die Mitte, wie bei dieser Stimmabgabe für die Verfassungsgebende Versammlung. Darüber hinaus stimmten die Menschen, im Vergleich zu früheren Wahlen, häufiger für lokale Organisationen wie auch für unabhängige Kandidat*innen, die keiner politischen Partei angehören und insgesamt sogar weniger für traditionelle Parteien.
Die linke Liste „Apruebo Dignidad“, ein Bündnis aus der Frente Amplio und der Kommunistischen Partei, gewann 19 Prozent der Stimmen und wurde gleichzeitig zweitstärkste Kraft. Des Weiteren konnte die Liste der Unabhängigen „La Lista del Pueblo“, ein Netzwerk aus linken Kandidat*innen und lokalen Organisationen, 16 Prozent der Stimmen erzielen. Ihre zentralen linken Forderungen verlangen nach einem Sozialstaat, der soziale Rechte garantiert (Wohnen, Gesundheit, Bildung etc.), die Entkommerzialisierung sowie der Schutz natürlicher Ressourcen, wie Wasser. Dazu kommen eine feministische Verfassung, mehr Demokratie - zum Beispiel durch eine Dezentralisierung des Staates - wie auch eine Veränderung der Beziehung zwischen Indigenen und dem chilenischen Staat, mit mehr Autonomie für sie.
Trotz Differenzen haben linke Parteien, soziale Organisationen und Unabhängige zusammen etwa 35 Prozent der Stimmen gewonnen. So viel Rückhalt hatte die Linke seit der Rückkehr zur Demokratie noch nie.
Chile ist in Bewegung. Das Land schüttelt die Folgen der Pinochet-Diktatur ab. Die wichtigste Baustelle ist dabei die neue Verfassung: 77 Frauen und 78 Männer werden das neue Grundgesetz entwerfen. Die chilenische Verfassung wird die erste Verfassung der Welt sein, die von einem Verfassungskonvent mit Geschlechterparität ausgearbeitet wird. Davon sind 17 der Delegierten Vertreter indigener Völker. Somit erhalten sie zum ersten Mal die Möglichkeit, aktiv über ihr Verhältnis zum chilenischen Staat und welche Beziehung sie zu ihm haben möchten, mitzuentscheiden.
Die Rechte erreichte nicht die 33 Prozent, die sie gebraucht hätte, um größere Veränderungen des neoliberalen Regimes zu blockieren. Obendrein verlor sie vier wichtige, eher traditionell konservative Gemeinden, darunter die Hauptstadt Santiago. Das rechte Lager wurde dabei von der Linken, der Frente Amplio, oder der Kommunistischen Partei besiegt.
Der Verfassungskonvent wird repräsentativer für die Vielfalt der chilenischen Gesellschaft sein, als jedes andere Parlament davor, das wir in dieser langen Periode der elitären Demokratie hatten. Auch wenn vieles noch offen ist, die alte Übergangsordnung, die wie oben beschrieben durch ein Duopol zwischen der Rechten und der Mitte, einem neoliberalen Konsens und einem ausgeprägten elitären Charakter gekennzeichnet war, wurde besiegt oder zumindest stark geschwächt.
Eine politische Neuordnung entsteht
Die Wahlen veränderten die Kräfteverhältnisse zwischen den Parteien und Bündnissen enorm - und das kurz vor der Deadline am 19. Mai zur Anmeldung von Kandidaturen und Listen für die Vorwahlen im Juli wie auch für die Präsidentschaftswahlen im November. Diese Woche war also die Politik vergleichbar mit einem chaotischen Marathon.
Eine für die politische Rechte wichtige Kandidatin, Evelyn Matthei, zog ihre Kandidatur zurück und Joaquín Lavín, ein anderer Kandidat, warnte die Regierung des gegenwärtigen Präsidenten Piñera, sich aus seiner Kampagne herauszuhalten.
Insbesondere in der Mitte rumort es. Die Christdemokratie, die nur zwei Sitze in der Verfassungsgebenden Versammlung erhielten, befindet sich in einer tiefen Krise. Ihre Parteivorsitzende ist zurückgetreten und die Kandidatin zur Präsidentschaftswahl zog zurück.
Die Sozialistische Partei, die als einzige innerhalb der politischen Mitte gut abschnitt, leidet ebenfalls unter den Folgen der politischen Neuordnung. Sie konnte weder mit den Christdemokrat*innen noch mit der Linken eine Einigung für eine gemeinsame Liste bei den Vorwahlen erzielen, sodass das politische Zentrum nicht an den Vorwahlen teilnehmen wird und am Ende fast ohne Kandidat*in dagestanden hätte.
Deshalb waren die Wahlen mehr als nur eine Verschiebung der Ergebnisse. Sie waren ein politisches Erdbeben für jene herrschende Klasse, die sich an eine Demokratie ohne Gesellschaft gewöhnt hat.
Linke muss Stellung beziehen
Die Frente Amplio und die KP stellten eine gemeinsame Liste für die Vorwahlen auf. Gabriel Boric – Mitglied der Convergenica Social tritt als Kandidat für die Frente Amplio an, Daniel Jadue ist der Kandidat der KP.
Ganz allgemein verläuft die Debatte innerhalb der Linken in diesem Prozess zwischen jenen, die meinen, dass ein linker Pol aufgebaut werden muss, gegen die politische Mitte und die Rechten. Die jüngsten Wahlergebnisse und die gegenwärtigen Veränderungen in der chilenischen Gesellschaft geben ihnen Rückenwind. Gegen dieses Vorgehen spricht die Gefahr eines Rückfalles in die alte Strategie der drei Drittel (1/3 rechts, 1/3 Zentrum, 1/3 Linke). Dadurch wäre das Zentrum in einer privilegierten Verhandlungsposition und für die Linke bestünde das Risiko eine links-indentitäre Politik zu verfolgen und kein hegemoniales Projekt zu werden droht.
Andererseits gibt es den Ansatz das Zentrum einzubinden und aus dessen Krise zu profitieren. Die Idee ist, Teile der politischen Mitte von den eigenen Positionen zu überzeugen und damit gleichzeitig zu verhindern, dass die Mitte wiederum ein eigener politischer Akteur wird. Dafür spricht die historische Niederlage der alten 3/3 Strategie, die Diversität der chilenischen Gesellschaft, die sie sich nicht mehrheitlich links versteht, und was es für den Aufbau eines hegemonialen Projektes braucht. Dagegen spricht jedoch, dass durch diese Strategie doch die alte Politik der Transformation am Leben gehalten werden könnte und jene Parteien der Mitte dadurch gerettet würden. Die Menschen könnten den Eindruck gewinnen, dass sich die Linke eigentlich nicht vom Zentrum unterscheidet.
Es bleibt wichtig zu betonen, dass in dem Verfassungsprozess über den zukünftigen Weg Chiles entschieden wird. Hier werden sich alle Akteure positionieren und die politische Gemengelage wird sich sortieren müssen, wofür und wogegen sie Stellung nehmen.
Chile verändert sich
Der Verfassungsprozess wird einen neuen historischen politischen Zyklus eröffnen, auch wenn er nicht das Ende der emanzipatorischen Kämpfe bedeuten wird. Denn Chile wird sich nicht nur eine neue Verfassung geben, sondern wir werden die Politik selbst, ihre Ausrichtung und die Kräfteverhältnisse, des zukünftigen Chiles neu definieren.
Wir befinden uns in einem Zustand des Halbdunklen - „Die alte Welt liegt im Sterben, die neue ist noch nicht geboren.“ Allerdings hat die alte Welt eine große Niederlage erfahren. Das Ergebnis dieser Wahlen lässt hoffen, dass ein neues Chile geboren wird – noch ist es nicht so weit, aber es kämpft darum, geboren zu werden.
Wir stehen vor vielen Herausforderungen, aber das erste Mal seit vielen Jahren haben wir die realistische Chance uns damit auseinanderzusetzen, ein hegemoniales Projekt der Linken für einen neuen Zyklus zu denken.
Francisco Alvarez engagiert sich für die chilenische "Frente Amplio". Sie ist ein Zusammenschluss von linken Parteien und Bewegungen.