Holen wir uns die Städte zurück!
Von Hamburg bis München, von Köln bis Dresden: Am Pfingstwochenende nahmen über 250 Personen aus knapp 30 Städten am „Deutsche Wohnen & Co enteignen“-Camp in Berlin teil und schrieben so ein Stück Bewegungsgeschichte. Auf dem Programm standen Organising- & Argumentations-Workshops, Veranstaltungen, Vernetzungsangebote und zahlreiche gemeinsame Sammelaktionen. Das bundesweite Interesse an der Enteignungsinitiative ist enorm und daher lohnt ein Blick in die Architektur der Kampagne.
Der Zeitpunkt für die Vernetzung mit anderen Städten ist denkbar günstig. Derzeit befindet sich die Initiative in der zweiten Sammelphase: Vier Monate, um die Unterschriften von 7 Prozent der Berliner Wahlberechtigten zu sammeln. Wenn das gelingt, können die Berliner*innen am 26. September darüber abstimmen, ob der Berliner Senat damit beauftragt wird, ein Vergesellschaftungsgesetz auszuarbeiten und zu verabschieden. Mit diesem sollen dann die Wohnungsbestände von Immobilienkonzernen, die mehr als 3.000 Wohnungen in Berlin besitzen, vergesellschaftet werden. Die rechtliche Grundlage hierfür schafft der Artikel 15 des Grundgesetzes, der dank der Initiative an das Licht der Öffentlichkeit getreten ist.
Sinkende Reallöhne, steigende Mieten
Bei einem Erfolg der Kampagne würden rund 240.000 Mietwohnungen von Konzernen wie Deutsche Wohnen, Vonovia oder Akelius vergesellschaftet werden - langfristig bezahlbare Mieten, demokratische Mitbestimmung für Mieter*innen und der Stopp von Verdrängung & Spekulation wären die Folge. „Keine Rendite mit der Miete“ - ist nicht nur ein kultiger Demospruch: Hätte Deutsche Wohnen im letzten Jahr keine Dividende an Aktionär*innen ausgeschüttet, hätten Mieter*innen pro Wohnung knapp 2000 Euro weniger Miete zahlen müssen.
Der Renditehunger großer Wohnungskonzerne frisst sich durch eine Gesellschaft, in der die Reallöhne in den letzten Jahren rückläufig waren. Der Lösungsansatz der Kampagne erfreut sich hoher Zustimmung. Unterstützung gibt es vom Berliner Mieterverein, über die Berliner IG Metall, GEW, ver.di, bis hin zu Fridays for Future Berlin. Die Zustimmungswerte in der Berliner Bevölkerung liegen je nach Umfrage zwischen 40 und 60 Prozent. Das Mietendeckel-Urteil aus Karlsruhe und der „Wahlkampf“ der Initiative sorgen weiter für Aufwind.
Klassische Reformpolitik und radikale Perspektive
Für die gesellschaftliche Linke allgemein und die bundesweite Mietenbewegung im Speziellen wird eine Auswertung des Volksbegehrens viel Diskussionsstoff liefern. Schon jetzt zeichnen sich zwei bemerkenswerte Charakteristika ab: Das erste ist die Verbindung von klassischer Reformpolitik und radikaler Perspektive. Die Initiative knüpft an die Alltagssorgen und die realen Widersprüche unserer Gesellschaft an und bietet in Form eines Volksbegehrens - mit Bezug auf das Grundgesetz - einen realpolitischen Lösungsansatz.
Gleichzeitig wirft es die grundlegende Frage auf, wie wir leben, wohnen und wirtschaften wollen. Es schafft ein Angebot der Demokratisierung und macht damit einen Raumgewinn gegenüber einem Wirtschaftssystem möglich, das in den letzten Jahrzehnten alle zentralen Lebensbereiche Profitinteressen unterworfen hat. Bei der abendlichen Podiumsdiskussion auf dem Camp mit Aktiven aus der Gesundheits- und Klimagerechtigkeitsbewegung ließ sich spüren, dass dieser Ansatz der Vergesellschaftung auch für andere Politikfelder von zunehmendem Interesse sein wird.
Das Herzstück der Initiative
Das zweite Charakteristikum der Initiative besteht aus der gelungenen Verbindung von Campaigning und Organizing. Starke Forderungen, prägnante Statements und eingängige Grafiken im lila-gelben Farbenspiel haben der Kampagne zu einer Reichweite verholfen, die auf einer Plattform wie Instagram alle Berliner Parteien um ein Vielfaches übersteigt. Doch natürlich ist Deutsche Wohnen & Co enteignen viel mehr als ein Medienphänomen.
Das Herzstück der Initiative ist die präzise Organisierungsarbeit, die seit Beginn der ersten Sammelphase geleistet wird. Inzwischen gibt es ein Netz von Kiezteams, das sich über die gesamte Stadt erstreckt und von den Szenevierteln im Ring bis zu den Nachbarschaften am Stadtrand die Unterschriftensammlung organisiert. Hinzu kommen die sogenannten solidarischen Orte: Friseursalons, Restaurants, Buchhandlungen, Fahrradläden, Apotheken – in Räumen des Alltags liegen mietenpolitische Materialien und Unterschriftenlisten des Volksbegehrens aus.
Mietenpolitik in den Fokus rücken
Ergänzt wird diese Form der indirekten Kontaktaufnahme durch Methoden der direkten Ansprache. Neben den klassischen Sammelformaten finden Telefonaktionen und Haustürgespräche statt. Die Aktivist*innen finden sich über die Deutsche Wohnen & Co enteignen-App, die zu Beginn der Sammelphase veröffentlicht wurde, zusammen. Die App ermöglicht es Sammler*innen nach Aktionsart, Termin und Bezirk zu filtern. Organisiert über die App fuhren im Rahmen des Camps beispielsweise ca. 90 Aktivist*innen nach Marzahn, um Haustürgespräche zu führen – immer mit dem Fokus darauf, nicht nur eine Unterschrift einzusammeln, sondern Multiplikator*innen zu gewinnen und Mieter*innen zu organisieren.
Lange galt in der Bundesrepublik Mietenpolitik als ein Expert*innenthema. Die Enteignungsinitiative bricht genau damit und schafft ein niedrigschwelliges Angebot für Menschen, die ihre ersten Organisierungs-Erfahrungen machen. Die Kampagne gilt bundesweit als ein Leuchtturmprojekt. Der Mietenwahnsinn ist kein Hauptstadtphänomen und Events wie das Camp in Berlin haben gezeigt, dass die Strahlkraft der Initiative auch in Kleinstädte reicht.
Nicht nur Berlin hat Eigenbedarf
Mieten explodieren bundesweit, Immobilienkonzerne agieren bundesweit und so scheint es logisch, dass auch unsere Antwort „bundesweite Organisierung“ lautet. Doch natürlich lässt sich die Initiative weder 1 zu 1 auf andere Städte übertragen, noch sollte dies das Ziel sein. Berlin kann stadtpolitisch auf eine lange Geschichte der Mieter:innen-Selbstorganisierung zurückblicken. Diese Tradition der lokalen Selbstermächtigung ist Geburtshelferin und Lebensgarantie von Deutsche Wohnen & Co enteignen. Trotz der regionalen Unterschiede lassen sich aber viele Organizing-Formate auch in anderen Städten durchführen und auch die Berliner Initiative konnte von den Erfahrungen anderer Städte lernen. Im Mittelpunkt stehen also der Austausch und das gemeinsame Lernen – der Kieze, der Bezirke und eben auch der Städte.
Deutsche Wohnen & Co enteignen hat dabei unter anderem gezeigt, dass es keine Angst vor dem Enteignungsbegriff geben sollte. Noch vor wenigen Jahren wurde auch in Berlin das Wort „Enteignung“ gemieden. Inzwischen hat sich gezeigt, wie produktiv es sein kann, große Konfliktlinien zu schaffen. Die polarisierende Wirkung des Begriffs hat zur Popularität der Kampagne maßgeblich beigetragen. Diskussionen in Nachbarschaften, Zeitungen und Talkshows sind zu Berührungspunkten mit der Mietenbewegung geworden und haben diese gestärkt. Die einmalige Dynamik, die wir aktuell erleben, sollte bundesweit für neue Formen der Praxis genutzt werden. Denn klar ist: Nicht nur Berlin hat Eigenbedarf!