Das neue akademische Proletariat
- Nicole Gohlke
- Christian Schaft und Tobias Schulze
Manche Stimmen in der LINKEN beklagen, dass die Partei zu einer Akademiker*innenpartei geworden sei. Hierin drückt sich die Sorge aus, dass die soziale Frage gegenüber vermeintlich rein identitätspolitischen Themen in den Hintergrund rücken könnte und zur Abwendung von klassisch linken Wähler*innenmilieus der Arbeiter*innen und sozial Benachteiligten führe.
Diese Stellungnahmen reflektieren jedoch nicht den Wandel der Hochschulbildung. Denn die Hochschulexpansion und die zunehmende Akademisierung der Lohnarbeit bedeuten in der neoliberalen „Abstiegsgesellschaft“ nur selten eine Aufwertung neuer akademischer Berufe und Beschäftigtengruppen. Stattdessen ist ein akademisches Proletariat entstanden, das zum einen dadurch gekennzeichnet ist, dass sich Akademiker*innen in sozialer Lage und gesellschaftlicher Stellung zunehmend dem nicht-akademischen Teil der Klasse der Lohnabhängigen angeglichen haben, und zum anderen, dass sich gleichzeitig ein wachsender Teil des „klassischen Proletariats“ akademisiert, denn immer mehr eigentlich klassische Lehrberufe benötigen eine immer höhere Qualifikation.
Die Gegensätze zwischen Akademiker*innen und Nicht-Akademiker*innen verwischen spätestens seit der Jahrtausendwende in vielen Bereichen. Die Klasse der Lohnabhängigen ist in Deutschland mit über 40 Millionen Arbeitnehmer*innen so groß wie nie zuvor – längst geht ein Großteil der an Hochschulen ausgebildeten Arbeitskräfte in dieser Klasse auf. Unter den Bedingungen einer neoliberalen Arbeitswelt schützt akademische Bildung zunehmend nicht mehr selbstverständlich vor der sich ausbreitenden Prekarisierung, also unsicheren Beschäftigungsverhältnisse und dem drohenden sozialen Abstieg. Eine linke Partei, die den Anschluss an die Lebenswirklichkeit von heute nicht verpassen will, muss diesen Umstand reflektieren und entsprechende strategische Ableitungen daraus treffen.
Widersprüchliche Hochschulexpansion
Die Studienanfänger*innenquote eines Jahrgangs stieg von knapp 8 Prozent eines Jahrgangs im Jahre 1960 auf über 56 Prozent im Jahre 2019 - die Akademisierung erfasste immer mehr Berufsfelder: Im Verlauf der 1980er Jahre trug die Ausweitung der Ingenieur*innenwissenschaften zu einer zunehmenden Akademisierung industrieller Berufe bei (etwa Elektrotechnik, Maschinenbau oder Bauwesen). In den 1990er Jahren folgte der Aufstieg der Informationstechnologie mit ihren diversen Berufsfeldern diesem Trend. Seit den 2000er Jahren erreichte die Akademisierung auch den wachsenden Bereich der sozialen Dienstleistungen (Soziale Arbeit, Krankenpflege, Ergotherapie, frühkindliche Erziehung oder die Hebammenkunde). Heute gibt es in Deutschland über 20.000 Studiengänge und etwa 2,9 Millionen Studierende.
Ein Großteil des Akademisierungsschubs spielt sich an den Hochschulen für angewandte Wissenschaften und Berufsakademien ab, was für eine zunehmende Ausdifferenzierung des akademischen Bereichs spricht, auch hinsichtlich der sozialen Differenzierung der Studierendenschaft und damit künftiger akademischer Fachkräfte. Hochschulen für angewandte Wissenschaften sind zunehmend ein sozialer Türöffner für die akademische Ausbildung von Menschen ohne klassische Hochschulzugangsberechtigung. Und auch Berufsakademien oder duale Hochschulen sind für Studieninteressierte aus nicht-akademischen Familien attraktiv als Bindeglied zwischen der beruflichen und akademischen Ausbildung. Während der Anteil von Studierenden an Hochschulen für angewandte Wissenschaften stetig wächst und derzeit über eine Million Menschen umfasst, verzeichnen Universitäten (inkl. pädagogischer- und theologische Hochschulen) mit 1,8 Millionen kaum Wachstum.
Der neoliberale Umbau der Hochschulen
Parallel zur Ausweitung der akademischen Bildung haben neoliberale Umbaumaßnahmen seit den 1990er Jahren auch die Hochschulen erfasst und veränderten sie drastisch. Die 1999 verabschiedeten Bologna-Reformen mit der Einführung der Zweiteilung des Studiums in Bachelor- und Masterstudiengänge, verfolgte im Wesentlichen das Ziel, den Großteil der Studierenden nach kurzer Studiendauer in den Arbeitsmarkt zu entlassen. Dabei ging es ebenso darum, die Studienkosten zu senken, als auch höhere Lohnerwartungen der zukünftigen Akademiker*innen zu bremsen.
Die Bildungs- und Hochschulexpansion war also von Anfang an ein widersprüchliches Unterfangen: zwar verschaffte sie auch Arbeiterkindern zum ersten Mal in nennenswertem Umfang Zugang zu akademischer Bildung und war damit ein Schritt in Richtung Bildungsgerechtigkeit – doch ging es von Beginn an auch darum, qualifizierte Arbeitskräfte für die zunehmend wissenszentrierte Wirtschaft bereitzustellen. Für Produktivitätssteigerungen in der wissensbasierten kapitalistischen Ökonomie wurden nicht nur akademisch gebildete Führungskräfte, sondern auch immer mehr Personal auf mittleren und unteren Stufen der Unternehmen mit akademischer Bildung benötigt. Der Bologna-Prozess samt der Stufung der akademischen Abschlüsse in Bachelor und Master und dem Fokus auf Employability entsprach diesem Bedarf.
Akademiker*innen in der Abstiegsgesellschaft
Auch wenn eine akademische Bildung immer größeren Bevölkerungsteilen offensteht, sind soziale Barrieren beim Zugang zu akademischer Bildung alles andere als verschwunden. In kaum einem anderen OECD-Land hängt die Aufnahme eines Studiums an Universitäten und Hochschulen für angewandte Wissenschaften so stark von der sozialen Herkunft ab wie in Deutschland. Ausgehend vom Schulsystem verlängert sich eine massive Bildungsungleichheit in den Bereich der Berufs- und Hochschulbildung.
Diese Ausgangslage kommt mit einer veränderten Struktur des Arbeitsmarkts zusammen. Zwar sind Studierendende und Akademiker*innen mit Blick auf ihr Tätigkeitsprofil nach wie vor besser gestellt. Sie müssen selten harte körperliche Arbeiten verrichten und verfügen über mehr Autonomie in der Gestaltung ihres Arbeitsalltags. Eine Elite bilden sie in ihrer Gesamtheit aber trotzdem längst nicht mehr. Denn ein akademischer Grad mag auch heute noch bessere berufliche Perspektiven bieten – allerdings hat sich die Qualität der Perspektive insgesamt verschlechtert. Die "nivellierte Mittelstandsgesellschaft" der Nachkriegsjahrzehnte hat sich in eine "Abstiegsgesellschaft" verwandelt. Konnte man früher darauf hoffen, es werde den eigenen Kindern einmal besser gehen, muss man heute davon ausgehen, dass sie Probleme damit haben werden, den Lebensstandard ihrer Elterngeneration zu halten.
Viele Akademiker*innen landen in klassischen Arbeitsverhältnissen
Die überwiegende Mehrheit der heutigen Studierenden und jungen Akademiker*innen landet letztlich in klassischen Lohnarbeitsverhältnissen. Von 2008 bis 2018 ist der Anteil von "Arbeitern" und "Angestellten" an der gesamten erwerbstätigen Bevölkerung um 11 Prozent gestiegen, der Anteil von Akademiker*innen, die "Arbeiter" oder "Angestellte" werden, stieg hingegen um 43 Prozent. Nur einem kleinen Teil der Akademiker*innen gelingt der Aufstieg in hohe Gehaltsgruppen oder Führungspositionen. Die Einstiegsgehälter von Akademiker*innen liegen nur unwesentlich über vielen Lehrberufen. Zwar liegt das durchschnittlich zu erwartende Lebenseinkommen von Akademiker*innen weiterhin über dem gesellschaftlichen Gesamtdurchschnitt, allerdings gibt es große Unterschiede zwischen verschiedenen Studiengängen sowie den Geschlechtern.
Die Anerkennung und Wertschätzung von akademischer Bildung im Sozial- und Care-Bereich ist im Vergleich zu MINT-Studiengängen geringer ausgeprägt und zeigt angesichts der Verteilung der Geschlechter auf entsprechende Studienrichtung, eine ähnliche Spaltungslinie auf, wie im nicht-akademischen Bereich. Einkommen und Status hängen damit heute zum Teil mehr von Branche und Beruf ab als vom formalen Bildungsabschluss, und in einigen Berufen erzielen Akademiker*innen im Vergleich zu Absolvent*innen mit einer Ausbildung zur Meister*in oder Techniker*in geringere Einkommen. Auch was die Stellung in den Betrieben und Unternehmen betrifft, sind Akademiker*innen längst nicht mehr automatisch in leitender Funktion tätig. So haben Erwerbstätige mit Fortbildungsabschluss sogar häufiger direkte Personalverantwortung als Erwerbstätige mit akademischem Abschluss.
Viele Akademiker*innen kommen nach dem Studium nicht in feste Arbeitsverhältnisse, sondern hangeln sich von einem unbezahlten Praktikum zum nächsten und werden höchstens befristet eingestellt. Mit 48 Prozent war 2017 fast jeder zweite neu abgeschlossene Arbeitsvertrag von Akademiker*innen befristet; dieser Anteil lag deutlich über dem von Arbeitnehmer*innen mit Berufsabschluss (38 Prozent). Auch hat jede/r sechste Beschäftigte, die oder der von einer der 15 größten Leiharbeitsfirmen vermittelt wird, studiert. Im akademischen Mittelbau an Hochschulen sind 93% aller Beschäftigten befristet angestellt. Die Mehrzahl der Studierenden und jungen Akademiker*innen ist also selbst direkt von der wachsenden ökonomischen und sozialen Ungleichheit und der allgemeinen Senkung des Lebensstandards betroffen. Ihr Berufsleben ist von steigenden Arbeitszeiten, wachsender Unsicherheit, Befristungen, Arbeitsverdichtung und Lohndepression gekennzeichnet. Ein Studium heute ist also keine Garantie mehr für sozialen Aufstieg, sondern oftmals ein Versuch, die Gefahr des sozialen Abstiegs zu senken. Kurzum: Ein Großteil der heutigen Akademiker*innen arbeitet unter sehr ähnlichen Bedingungen wie die klassische Arbeiter*innenklasse.
Die Verantwortung der Linken
Die häufig zu lesenden polemischen Gegenüberstellungen von Arbeiter*innenklasse und vermeintlich elitären „akademischen Mittelschichten“ oder zwischen „akademischen Milieus“ und „kleinen Leuten“ mit geringerer Bildung und Einkommen ist in den meisten Fällen nicht zeitgemäß und verkennt die Diversifizierung der arbeitenden Schichten in einer zunehmend wissens- und informationsgeprägten Gesellschaft.
Es ist daher keine falsche Feststellung, dass die Arbeiter*innenklasse gespalten ist. Trennlinien verlaufen wie in anderen gesellschaftlichen Schichten auch entlang von Gender, Ethnizität oder habituellen Umgangsweisen und auch auf dem Feld der Arbeitsbeziehungen selbst, etwa zwischen Festangestellten sowie Leiharbeiter*innen und Werkvertragsarbeiter*innen oder zwischen befristeten und unbefristeten Beschäftigten. Habituelle Gegensätze sind real und sorgen seit jeher für die Distinktion der gehobenen Klassen vom "gemeinen Volk". Und natürlich gibt es auch die nicht immer leicht verständlichen Diskurse im akademischen Raum oder bei der gesellschaftlichen Linken. Trotzdem sollte die Linke die Gemeinsamkeiten zwischen den verschiedenen Teilen und Milieus der heutigen Arbeiter*innenklasse erkennen sowie betonen und dabei helfen, die bestehenden habituellen Gegensätze zu überbrücken.
Niemand in der Linken sollte auf die Idee kommen, diese Spaltung dafür zu nutzen, um Arbeiter*innen gegen Akademiker*innen ins Feld zu stellen. Tatsächlich sind und waren Spaltungen innerhalb der Arbeiter*innenklasse schon immer der Normalzustand. Die Herstellung der Einheit ist eine politische Aufgabe, die wir nicht erreichen, wenn wir die verschiedenen Gruppen gegeneinander ausspielen, sondern nur dann, wenn Gemeinsamkeiten zwischen den Milieus, Einkommens- und Bildungsniveaus gesucht werden.
Deshalb muss für die Partei DIE LINKE wie für die gesellschaftliche Linke insgesamt gelten: Der Gegensatz zwischen den „urbanen akademischen Schichten“ und der Arbeiterklasse ist nur dann einer, wenn man fälschlicherweise unterstellt, dass erstere nicht unter den Härten des Arbeitsmarkts leiden würden. Das tun sie, wie wir gesehen haben. Die beschriebene Entwicklung von Akademisierung und Prekarisierung zeigt deutlich, wie künstlich der konstruierte Gegensatz zwischen Akademiker*innen und der Arbeiter*innenklasse heute ist. Statt alten Spaltungslinien das Wort zu reden, muss die Linke ihrer Verantwortung für alle Lohnabhängigen und auch Solo-Selbstständigen gerecht werden.
Und daraus ergeben sich Fragestellungen mit denen wir uns als LINKE auseinandersetzen müssen.
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Durchdringen wir damit die aktuellen Entwicklungen im Hinblick auf die Digitalisierung, Wissens- und Informationsanforderungen und Innovationen in der Arbeitswelt?
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Sind wir auf der Höhe der Zeit bei den Debatten um Akademisierung von Berufsabschlüssen, von veränderten Bildungs- und Berufsbiographien und Selbstbildern bei Beschäftigten?
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Nehmen wir wahr, für wie viele Menschen Bildung hoffnungsvoller Schlüssel nicht nur zu sozialem Aufstieg, sondern auch zu Emanzipation ist?
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Bieten wir eine Kommunikation und Parteistrukturen an, die sowohl Menschen mit niedrigen als auch mit hohen Bildungsabschlüssen zu Mitarbeit, Engagement und Unterstützung der LINKEN motiviert?
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Erkennen wir das eine breite Öffnung des Zugangs zu wissenschaftlicher (Weiter-)Bildung auch eine Demokratiefrage und ein Schlüssel zur Bewältigung der sozial-ökologischen Transformation der Arbeitswelt ist?
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Erkennen wir, welche zentrale Rolle Wissenschaft nicht erst mit der Pandemie für die Lösung zentraler gesellschaftlicher Probleme spielt?
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Ist einen durchsetzungsfähige und gestaltungswillige Linke in einer Wissensgesellschaft ohne Bezug zu aktueller Wissenschaft und Forschung überhaupt denkbar?
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Suchen wir also das Verbindende, seien wir Bildungs- und Wissenschaftsoptimist*innen und führen wir aktiv die Debatten über die Öffnung der akademischen Welt und ihre Potentiale, statt diese im Elfenbeinturm sich selbst zu überlassen.
Ausführlicher gibt es dazu von Nicole Gohlke ein Plädoyer für eine zeitgemäße Betrachtung von Akademiker*innen abrufbar unter https://www.zeitschrift-luxemburg.de
Nicole Gohlke ist Sprecherin für Hochschul- und Wissenschaftspolitik für die Fraktion DIE LINKE. im Bundestag
Christian Schaft Sprecher für Wissenschaft, Hochschule und Forschung für die Fraktion DIE LINKE. im Thüringer Landtag
Tobias Schulze Sprecher für Wissenschaft und Forschung, Netzpolitik, Digitale Verwaltung für Fraktion DIE LINKE. im Berlin Abgeordnetenhaus