Alternativen zum kapitalistischen Wachstumsmodell
Probleme des Wachstums spielen in der ökonomischen Theorie und der Wirtschaftspolitik eine wichtige Rolle. Wachstum galt und gilt als Schlüssel für wachsenden Wohlstand, Beschäftigung und nachhaltige Staatsfinanzen. Allerdings haben auf Wachstum ausgerichtete Politiken in den vergangenen Jahrzehnten weder in Deutschland noch in anderen Industriestaaten Massenarbeitslosigkeit, Armut und steigende Schuldenquoten verhindern können. Zudem kommen die durch das Wachstum geschaffenen Möglichkeiten längst bei vielen Menschen nicht mehr an, es tritt im Gespann mit Ungleichheit auf.
So konnten Reiche und Superreiche in den vergangenen Jahrzehnten erhebliche Teile des zusätzlichen Volkseinkommens an sich ziehen, während die Einkommen im mittleren und insbesondere im unteren Bereich unter Druck gerieten. Mehr als fraglich ist zudem, wie fortwährendes Wachstum mit den ökologischen Belastungsgrenzen der Erde vereinbart werden kann. Dies hat den Glauben an Wirtschaftswachstum schwer erschüttert.
Wachstumskritische Positionen sind allerdings längst nichts Neues. Schon seit geraumer Zeit – beginnend etwa in den 1960er/1970er Jahren – gibt es eine wachstumskritische Bewegung. Der erste Bericht des „Club of Rome“ über „die Grenzen des Wachstums“ (Meadows u.a. 1972) wurde zu ihrem Fanal und rückte die Endlichkeit der natürlichen Ressourcen und die begrenzte Belastbarkeit der Umwelt in den Fokus. Immer mehr wird seitdem klar, dass das Wachstumsmodell der kapitalistischen Industriestaaten nicht mehr fortgesetzt werden kann. Da die staatssozialistischen Länder ebenfalls einseitig auf hohe Wachstumsraten ausgerichtet waren, bieten auch sie kaum Anknüpfungspunkte für eine alternative Wachstumspolitik.
Drei Stränge einer alternativen Wachstumspolitik
Im alternativen Wachstumsdiskurs lassen sich drei verschiedene Diskussionsstränge feststellen, die zu unterschiedlichen Schwerpunkten in der Wachstumsdiskussion und zu unterschiedlichen Konsequenzen für das Wachstum und die Politik kommen (ausführlicher in MEMORANDUM 2013, Kap. 8 „Sozial-ökologische Entwicklung statt Wachstumsmythos“).
Für alle Stränge gilt gleichermaßen: Gesamtwirtschaftliches Wachstum ist kein Selbstzweck, sondern Mittel zur Erfüllung sozialer und ökologischer Ziele. Was die Messung des Wachstums mithilfe des Bruttoinlandsprodukts (BIP) betrifft, ist dieses als Wohlstandsindikator nur begrenzt tauglich. Zum einen bleibt ein beachtlicher Teil der gesellschaftlichen Arbeit im BIP unberücksichtigt, wie die gesamte reproduktive Familienarbeit oder ehrenamtliche Tätigkeiten. Dagegen treiben negative Ereignisse, wie die Beseitigung einer Ölpest oder ein Verkehrsunfall, der Reparaturarbeiten und lange Krankenhausaufenthalte erzwingt, das BIP in die Höhe. Auch über die Verteilung und Konzentration von Reichtum sagt das BIP nichts aus. Zwar ist das BIP pro Kopf mit diesen Einschränkungen immer noch eine wichtige, wohlstandsbeeinflussende Größe (man vergleiche nur vor dem Hintergrund der Schrumpfungsprozesse nach der Finanzkrise die soziale Lage in Südeuropa mit derjenigen in Deutschland). Insgesamt hat sich aber gezeigt, dass das BIP nur sehr begrenzt Auskunft über Lebensqualität und Zufriedenheit gibt. Vielfältige Versuche, es durch einen anderen Indikator zu ersetzen, etwa ein ökologisch korrigiertes BIP oder der Human Development Index der UN-Entwicklungsorganisation UNDP, haben jedoch selbst mit Schwierigkeiten zu kämpfen und konnten sich nicht durchsetzen.
Der erste Strang der alternativen Wachstumspolitik legt den Schwerpunkt auf die Förderung der Wachstumskräfte. Im Vordergrund steht dabei die Forderung, durch eine nachfrageorientierte Wirtschafts- und Sozialpolitik die Binnenwirtschaft zu stärken – u.a. durch produktivitätsorientierte Lohnerhöhungen, höhere Mindestlöhne und soziale Standards sichernde Sozialleistungen. Damit sollen die Beschäftigungsmöglichkeiten erweitert, die öffentlichen Haushalte stabilisiert und gleichzeitig wieder höhere Zuwachsraten des BIP erreicht werden. Diese klassische keynesianische Politik stellt den Gegenpol zur angebotsorientierten, unternehmerfreundlichen Wachstumspolitik dar, die durch Deregulierung, niedrige Löhne und Steuern und einen generell schwachen Staat für ein profitgetriebenes Wachstum sorgen will, tatsächlich aber zu Wachstumsschwäche, Sozialabbau, eine ungleiche Einkommens- und Vermögensverteilung, anhaltende Massenarbeitslosigkeit und unzureichenden öffentlichen Investitionen geführt hat.
Der zweite Strang der alternativen Wachstumspolitik, der ebenfalls die Notwendigkeit eines stabilen Wirtschaftswachstums betont, ergänzt den ersten Strang um eine betont ökologische Komponente und beruft sich auf die erheblichen Wachstumspotenziale eines sozial-ökologischen Umbaus. Mehr Personal und Investitionen in die Verkehrswende, nachhaltige Energieversorgung, energetische Gebäudesanierung, gesteigerte Ressourceneffizienz sowie mehr Bildung, Erziehung, Gesundheit, Pflege und kulturelle Dienstleistungen sollen zu erheblichen Beschäftigungs- und Wachstumseffekten führen. Auch wenn dabei im Gegenzug ökologisch schädliche Bereiche zurückgefahren werden, soll im Saldo ein positives Wirtschaftswachstum entstehen. Der ökologische Part dieser expansiven Politik wird mitunter auch als „green growth“ („grünes Wachstum“) bezeichnet und kommt auch in Konzepten wie dem „Green New Deal“ zum Ausdruck (links-grüne Konzepte besetzten den Begriff längst vor der EU-Kommission).
Im dritten Strang stehen die Probleme der Umwelt- und Klimakrise und das Überschreiten der ökologischen Tragfähigkeitsgrenzen der Erde im Vordergrund. Er wird als „Degrowth“-Ansatz bezeichnet, was sich besser durch „Entwachstum“ als durch Schrumpfung übersetzen lässt. Inzwischen hat sich im Deutschen auch die Bezeichnung „Postwachstum“ etabliert, die noch mehr verdeutlicht, dass es der Bewegung um die Überwindung von Wachstumszwängen geht und nicht um Schrumpfung per se. Die im zweiten Strang vorgeschlagenen, wachstumsfördernden Maßnahmen werden für die notwendige Verringerung des ökologischen Fußabdrucks als nicht ausreichend betrachtet. Eine ökologisch nachhaltige Lebensweise in den reichen Ländern lasse sich nur durch Verzicht auf weiteres Wachstum oder eine schrumpfende Wirtschaft erreichen. Dieser Wachstumsverzicht bzw. diese Wachstumsrücknahme soll aber geordnet passieren und nicht ungeordnet wie in einer Wirtschaftskrise. Obwohl er kein typischer Postwachstumsvertreter ist, hat Papst Franziskus die Kritik und ihre soziale, ökologische und globale Dimension gut in Worte gefasst: „Wir wissen, dass das Verhalten derer, die mehr und mehr konsumieren und zerstören, während andere noch nicht entsprechend ihrer Menschenwürde leben können, unvertretbar ist. Darum ist die Stunde gekommen, in einigen Teilen der Welt einen gewissen Wachstumsrückgang zu akzeptieren und Hilfen zu geben, damit in anderen Teilen ein gesunder Aufschwung stattfinden kann."
Teil 2 widmet sich der Frage, was aus den ökologischen Belastungsgrenzen für das Wachstum folgt.