Kinderarmut prägt das Land
- Inge Hannemann
Kinderarmut prägt das Land
„Mehr als jedes fünfte Kind wächst in Deutschland in Armut auf. Das sind 2,8 Millionen Kinder und Jugendliche unter 18 Jahren.“ Das sind die alarmierenden Zahlen aus der aktuellen Studie der Bertelsmann Stiftung zur Kinderarmut. Die Autor*innen bringen es auf den Punkt, wenn sie schreiben, dass die Kinder- und Jugendarmut weiterhin auf hohem Niveau verharrt. Trotz guter Konjunktur gehen die Zahlen kaum zurück. Die Studie warnt vor einer Verschärfung durch die derzeitige Corona-Krise und fordert neue sozial- und familienpolitische Konzepte. Dazu gehören finanzielle Leistungen die vor Armut schützen und eine gesellschaftliche Teilhabe ermöglichen wie eine Kindergrundsicherung oder ein Teilhabegeld. Gesellschaftliche Debatten, auch mit Kindern als Expert*innen, müssen geführt werden, womit gleichzeitig die Frage geklärt werden soll, wie hoch muss die Absicherung sein, um mehr als nur ein Existenzminimum zu gewährleisten. Dass die Eltern zusätzliches Geld für sich ausgeben würden, gibt keine empirische Studie her, so die Autor*innen. Vielmehr ist es so, dass das Geld bei den Kindern ankommt und arme Eltern häufig an sich sparen, um ihren Kindern möglichst viel zu ermöglichen.
Ab wann ist man eigentlich arm? Als arm gilt, wer unter die relative Einkommensarmut fällt und deren Einkommen weniger als 60 Prozent des mittleren Einkommens aller Haushalte beträgt. Dabei werden regionale Unterschiede berücksichtigt. Kinder und Jugendliche in Hartz-IV-Haushalten sind besonders betroffen. Diese Armut wird als sozialstaatlich definierte Armutsgrenze bezeichnet. Das bedeutet: Mit einem Nettoeinkommen in 2019 von 781 Euro oder weniger gilt als alleinstehende Person als arm. Bei Paaren gilt die Grenze bei einem Einkommen von weniger als 1.171 Euro im Monat. Die regionalen Unterschiede sind auch in dieser Studie ersichtlich. So ist die Armutsgefährdungsquote in Bayern mit 6,3 Prozent und in Baden-Württemberg mit 8,1 Prozent am niedrigsten. „Spitzenreiter“ sind Bremen (31,6 Prozent), Berlin (27 Prozent) und das Saarland (19,1 Prozent). Niedersachsen mit 14,3 Prozent liegt im Mittelfeld. Auch wenn die Quote in Niedersachsen in den letzten fünf Jahren um 0,2 Prozent gesunken ist, stagniert die Kinderarmut
Besonders häufig arm sind alleinerziehende Familien. Bundesweit wächst fast jede/s zweite Kind oder Jugendliche/r (45,2 Prozent) in Hartz-IV-Bezug in einer Ein-Eltern-Familie auf. In Niedersachsen beträgt die Quote 43,5 Prozent, trauriger Spitzenreiter ist Brandenburg (55,2 Prozent), gefolgt von Mecklenburg-Vorpommern (54,7 Prozent). Ist der Osten Deutschlands allgemein von Quoten über 50 Prozent geprägt, liegen die alten Bundesländer zwischen 42 Prozent (Saarland) und maximalen 49,6 Prozent (Hamburg). Dabei machen Ein-Eltern-Familien nur rund ein Fünftel aller Familien aus.
Mit der Kinderanzahl steigt die Armut, obwohl es mehrere familienpolitische Leistungen wie Kindergeld, Kinderzuschlag und Gutes-Kita-Gesetz gibt. Gleichzeitig steigt die Abhängigkeit von Sozialleistungen. Ein Drittel im Hartz-IV-Bezug ist alleinerziehend. Davon lebt wiederum ein Drittel mit einem Kind im Haushalt. Je mehr Kinder auch hier im Haushalt sind, umso höher ist der Anteil derer, die Hartz IV beziehen. Sind es bei zwei Kindern 40 Prozent, so sind es bei drei Kindern schon zwei Drittel (66,7 Prozent). Anders stellt es sich dar, wenn Paare mit Kindern im Haushalt leben. So ist hier nur jeder fünfte Haushalt im Hartz-IV-Bezug, wenn sie mehr als drei Kinder haben. Bei einem und zwei Kindern sind es rund fünf Prozent bzw. knapp sechs Prozent.
Die Folgen daraus sind prägend: Armut beschämt. In Armut lebende Kinder und Jugendliche können seltener Freund*innen nach Hause einladen – sie schämen sich ihrer Armut. Oftmals schlagen sie Einladungen zu Geburtstagen aus, weil sie kein Geschenk haben oder selbst keinen Geburtstag feiern können. Armut begrenzt: Arme Kinder haben seltener einen Rückzugsort bzw. ein eigenes Zimmer, einen PC mit Internet oder eine Vereinsmitgliedschaft. Sie haben geringere Möglichkeiten zur sozialen Teilhabe und erhalten weniger oder gar kein Taschengeld. Ein Viertel dieser Kinder kann nur selten neue Kleidung kaufen. Mehr als zwei Drittel kennen Urlaub nur als Wort. Bei Familien ohne Sozialleistungen können im Vergleich nur 12 Prozent sich keinen einwöchigen Urlaub leisten. Sind die Möbel einmal abgenutzt, bleibt es zumeist so. Nur jeder dritte Haushalt ist in der Lage, diese Möbel zu ersetzen. Kritisch wird es, wenn medizinische Behandlungen oder notwendige Medikamente selbst bezahlt werden müssen, weil sie nicht von der gesetzlichen Krankenkasse übernommen werden. Davon ist jeder fünfte Haushalt betroffen.
Das alles führt laut Studie dazu, dass sich die Kinder zurückziehen oder Ausreden erfinden, wenn aus Geldnot eine soziale Teilhabe nicht möglich ist. Dadurch erleben diese Kinder häufig Ausgrenzung, Gewalt oder Mobbing. Die gesundheitlichen Beeinträchtigungen, riskanteres Gesundheitsverhalten (Bewegungsmangel, Rauchen) und psychische Belastungen steigen mit der Armut. Durchschnittlich berichtet jedes zweite Kind davon.
Die Studie geht auch auf die Frage ein: „Was bedeutet die Corona-Krise für Kinder und Jugendliche und die Entwicklung der Kinderarmut?“ So schreiben die Autor*innen, „dass es schon heute deutlich ist, dass die Corona-Krise dazu führen wird, dass sowohl die Familien- und Kinderarmut als auch die Bildungsungleichheit in Deutschland steigen wird“. Dies wird mit den steigenden Arbeitslosenzahlen und Kurzarbeit, insbesondere im unteren Einkommensbereich und den damit verbundenen Einkommenseinbußen, begründet. Mehr Familien müssen neu oder ergänzend Arbeitslosengeld II beantragen. Bisherige Unterstützungsangebote (kostenloses oder kostengünstiges Mittagessen in Schulen, Kitas, Tafeln) wurden eingeschränkt oder fielen während der Corona-Krise ganz weg. Gerade bereits von Armut betroffene Haushalte hätten keine Möglichkeit, finanzielle Rücklagen zu bilden. Die Einschränkungen während der Schulzeit führten dazu, dass die Bildungschancengleichheit nicht gegeben war. So fehlten häufig Computer oder ein Rückzugsort, um in Ruhe zu lernen. Die Studie kritisiert, dass „die Perspektiven von Kindern, Jugendlichen und jungen Erwachsenen bei Entscheidungen über Maßnahmen und Strategien zur Bewältigung der Corona-Krise kaum berücksichtigt – auch nicht die von wissenschaftlichen Expert*innen im Bereich der Kinder- und Jugendforschung, kaum berücksichtigt wurden“. Kinder wurden ausschließlich auf ihre Rolle als Schüler*innen reduziert..
DIE LINKE fordert eine Kindergrundsicherung, die ihren Namen verdient und auf vier Säulen basiert:
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Kindergelderhöhung für alle Kinder auf 328 Euro monatlich.
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Arme Familien (Sozialleistungsbezug, niedriges Einkommen) erhalten zum Kindergeld einen Zuschlag, der altersabhängig bezahlt wird: 0-5 Jahre (192 Euro), 6-13 Jahre (275 Euro), 14-17 Jahre und junge Volljährige bis zum ersten Schulabschluss (302 Euro).
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Übernahme der tatsächlichen Unterkunftskosten.
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Einmalige und besondere Bedarfe anerkennen (Konfirmation, Jugendweihe, Einschulung, Klassenfahren etc.).
Die Studie über Kinderarmut bringt leider keine neuen Ergebnisse. Die Armut stagniert und steigt in manchen Landkreisen sogar an. Es ist ein Ergebnis, in dem sich die Einführung der Agenda 2010 im Jahr 2003 und deren Folgen mehr als deutlich zeigen. Daran hat auch die Bertelsmann Stiftung ihren Anteil. Wenn die Autor*innen in der Studie schreiben, dass Kinder und Jugendliche nicht in das Hartz-IV-System gehören, kommen sie damit 17 Jahre zu spät. Die allmähliche Unterhöhlung des Sozialstaates durch die Agenda 2010 dauert bis heute an. Mit dem größten europäischen Niedriglohnsektor wurde ein Ausbeutungssystem erschaffen, von dem die Lobbyist*innen, die es unterstützen, auf Kosten der Armen profitieren. Lohndumping wird vom Staat mit Hartz IV oder Lohnzuschüssen durch die Jobcenter und Arbeitsagenturen subventioniert. Jede neue Armutsstudie wird von den Medien breitgetreten, das scheinbare Erschrecken der regierenden Parteien ist groß. Leere Beteuerungen, dagegen etwas tun zu müssen, füllen dann das Phrasenschwein im Schnelldurchlauf. Vergessen wird, dass die damaligen Hartz-IV-Reformer*innen bis heute in der GroKo sitzen. Gerade die Corona-Krise zeigt, dass sie nicht an Sozialleistungsbezieher*innen denken. Stattdessen wird uns eine solide Wirtschaft, Fortschritt und Wohlstand vorgegaukelt. Daran änderte sich auch nicht viel in der derzeitigen Situation. Wer es nicht zu einem gewissen Wohlstand gebracht hat, bleibt weiterhin „schuldig“ und hat nicht hart genug gearbeitet. Dabei wird vergessen, dass die Lohn-, Umsatz- und Verbrauchssteuern rund 80 Prozent der gesamten Steuereinnahmen des Staates ausmachen. Die Gewinn- und Unternehmenssteuern tragen lediglich rund 12 Prozent zum Steuervolumen bei. Das heißt nichts anderes, als dass die Hauptsteuerlast von der breiten Masse getragen wird, von denen, die faktisch langsam, aber sicher immer ärmer werden. Eine gleichbleibende Zahl an Menschen war und ist von der Wohlstandsentwicklung bis heute abgekoppelt. Das gefährdet unser gesellschaftliches Zusammenleben und auch die Demokratie.