Hoffnung auf die Lücke
- Martin Heinlein
Katharina Dahme, Janis Ehling, Thomas Goes, Inva Halili und Felix Pithan, führende Genossinnen und Genossen aus dem innerparteilichen Zusammenschluss „Bewegungslinke“ in der Partei DIE LINKE, wollen als Ergebnis „intensiver gemeinsamer Diskussionen“ ein „strategisches Zentrum“ der Partei schaffen. Dieses Ziel verkünden sie in ihrem Meinungsbeitrag „Widerspenstig, lernbegierig und reformorientiert“.
Innerparteiliche Polarisierung
Zugleich fordern sie eine grundlegende Veränderung der Partei. Die LINKE von 2013 sei nicht die Antwort auf die Probleme von 2023. Stattdessen müsse sich die Partei „neu erfinden“. In einer Pose der Demut erklären sie, dass auch sie keine „fertige Antwort in der Schublade hätten“. Sie verfolgen damit eine Herangehensweise, die bereits vor Jahren unter dem Motto 'Fragend schreiten wir voran' den Eindruck erwecken wollte, undogmatisch zu sein. Dabei wurden von Teilen der Partei bisher erarbeitete Positionen und Strukturen zur Disposition gestellt und denjenigen, die diese erhalten wollen, unterstellt, sie stünden einer vermeintlich lernenden Partei entgegen.
Eine solche Polarisierung zwischen Erneuerern und Bewahrern, wie sie von den Verfasser:innen offenbar angestrebt wird, trägt sicherlich nicht zu der von ihnen geforderten „Lernbereitschaft“ und „Verständigung“ innerhalb der Partei bei.
Elitentheorie statt Interessengegensatz
Den Verfasser:innen zufolge sind die politischen Verhältnisse wesentlich geprägt dadurch, dass „die herrschenden Eliten und ihre Parteien viele Menschen verlassen und vergessen haben, deren Wünsche und Ansprüche unerfüllt bleiben“.
Bereits der Begriff „Elite“ ist zur Beschreibung gesellschaftlicher Unterschiede außerordentlich problematisch, unterstellt er doch, dass die Herrschenden in einem Konkurrenz- und Auswahlprozess ihre gesellschaftliche Stellung eingenommen hätten. Thematisiert werden nicht die gesellschaftlichen Unterschiede hinsichtlich der Stellung im Produktionsprozess, sondern ein Führungs- und Gefolgschaftsverhältnis zwischen Eliten und allgemeiner Bevölkerung. Die Verfasser:innen benennen nicht Interessengegensätze, sondern beklagen, dass Menschen „verlassen und vergessen“ worden seien.
Aber die Menschen werden nicht „verlassen und vergessen“, sie werden ausgebeutet und unterdrückt, zuweilen auch bestochen und korrumpiert, um sie an die Seite der gesellschaftlichen Herrschaft zu binden. Die Ausgebeuteten und Unterdrückten haben Interessen, die im Gegensatz zu den Herrschenden stehen, nicht lediglich „Wünsche und Ansprüche“.
Den Ausgebeuteten und Unterdrückten nur „Wünsche und Ansprüche“ zuzubilligen, führt schnell dazu, sie nur als Bittstellerinnen und Bittsteller zu sehen, nicht als politische aktive Subjekte, sondern als Objekte einer Vorstellung der politischen Verwaltung der Gesellschaft. So richten die Verfasser:innen ihr Augenmerk auf das Vorhaben, diese politische Verwaltung der Gesellschaft im Sinne aller zu verbessern, um die „schleichende soziale, die sich verschärfende ökologische und die sich ausweitende demokratische Krise“ zu meistern. Ein Vorhaben, das angesichts der gesellschaftlichen Interessengegensätze jedoch keine Aussicht auf Erfolg hat.
Parteipolitik gegen die Krise?
Die Verfasser:innen zufolge handelt es sich um Krisen, die „das gesamte kapitalistische System durchziehen und sich nicht durch oberflächliche Reformen bewältigen lassen“. Anstatt das gesamte politische System in den Blick zu nehmen, wenden sich die Verfasser:innen jedoch unmittelbar im Anschluss der Parteipolitik zu und proklamieren: „Vor diesem Hintergrund versagt die Ampel-Regierung.“ Auch auf der Ebene der Parteien und ihrer Politik werden Interessen und gesellschaftliche Kräfte nicht benannt, es verbleibt die vage Formulierung „Weil sie es nicht will und weil sie es nicht kann.“ Die Krise des Systems ist aber keine Frage des Willens oder des Könnens von Regierungsparteien, sondern eine Frage gesellschaftlicher Interessen und Kräfteverhältnisse. Der Absatz vermittelt ansonsten den Eindruck, dass die Unfähigkeit der Ampel-Regierung, die Krisen zu bewältigen, vor allem deswegen ein Problem sei, weil dies „der AfD das Feld bereitet“.
Die Partei DIE LINKE wird von den Verfasser:innen nicht als politische Kraft gesehen, die sich auf eine gesellschaftliche Klasse mit gemeinsamen Eigenschaften ihrer Lebenslage und ihrer Interessen stützt - und damit schon aus dieser Rolle heraus zu einer Kraft der Opposition zu den bestehenden Verhältnissen wird. Vielmehr böten „Probleme“ und die „verfehlte[n] Politik“ eine „politische Lücke in Deutschland“, die die LINKE bisher nicht füllen konnte. So wird die Partei DIE LINKE zu einer Funktionspartei degradiert. Der Partei wird eine Nische im politischen Betrieb zugewiesen, anstatt diesen Betrieb und die gesellschaftlichen Bedingungen seiner Existenz grundsätzlich infrage zu stellen.
Anstatt die Menschen zu „verlassen und zu vergessen“, solle sich die Partei „für die sozialen und politischen Anliegen derjenigen“ einsetzen, „die sozial abgehängt werden“, aber auch „für die, denen es noch relativ gut geht“. Alle diese Menschen sind in diesem Konzept keine politischen Mitstreiterinnen und Mitstreiter, sondern Adressaten politischer Werbung und Objekte wohlmeinender politischer Verwaltung. Konsequent ist daher auch die Problembestimmung, die die Verfasser:innen vornehmen: Nicht die politischen Botschaften der LINKEN seien das Problem, sondern dass sie bisher zu wenig Möglichkeiten gehabt habe, „für die Menschen im Land zu machen“.
Die Autoren blenden allerdings völlig aus, dass die LINKE als Kraft der Veränderung nur dann wahrgenommen werden kann, wenn sie sich in ihren politischen Botschaften als klare "Anti-Establishment-Kraft" etabliert und die vorhandene Unzufriedenheit in politische Mobilisierung umwandelt. Die Beteiligung an der Elite, die bisher Menschen „verlassen und vergessen“ hat, die Teilnahme insbesondere an Regierungen, der Zugriff auf Staatsmacht und Gesetzgebung – mit diesen Instrumenten soll die LINKE stellvertretend für die Menschen „glaubhaft“ Politik machen und sich bewähren. Es schließt sich der vage Appell an, die Partei möge „so sehr für die Arbeiter:innen und einfachen Angestellten und ihre Anliegen“ kämpfen, „wie mit ihnen gemeinsam“.
Keine Revolution!
Folgerichtig ist somit auch die Absage an die Vorstellung, die gesellschaftlichen Machtstrukturen grundlegend zu ändern. Auch wenn – wie die Verfasser:innen schreiben – die Probleme „das gesamte kapitalistische System durchziehen“, könne die LINKE „keine revolutionäre Partei […] werden“ und müsse ihr „Hauptaugenmerk darauf richten, im Hier und Jetzt Reformen durchzusetzen“. Mit der Gegenüberstellung des „Hier und Jetzt“ und der in die ungewisse Zukunft verschobenen „Revolution“ greifen die Verfasser:innen eine Argumentationsfigur auf, die der regierungsorientierte „Reformerflügel“ der Partei bereits zu Zeiten der Gründung der LINKEN nutzte. Ohne die Bereitschaft zur grundsätzlichen Auseinandersetzung wird es jedoch auch keine nennenswerten Reformen mehr geben, und die Perspektive der Revolution steht dem Kampf um aktuelle Verbesserungen nicht entgegen, sondern kann diesen beflügeln!
Es folgen vage Beteuerungen, dass es darum gehe, „das Sozialistische im Heute auszuweiten“ und für „Einstiege in den Ausstieg aus dem Kapitalismus“ einzutreten. Statt Motor von gesellschaftlichen Bewegungen, mit notwendig ungewissem Ausgang, solle die Partei „Reformmotor“ werden, also für vorher im politischen Raum entwickelte Reformkonzepte eintreten und diese voranbringen.
Der hier aufgemachte Gegensatz zwischen einer revolutionären Partei und denjenigen, die „Reformen im Hier und Jetzt“ durchsetzen wollen, kennen wir aus den Texten des FDS aus den Anfangsjahren der Partei und war aus unserer Sicht schon immer befremdlich. Es suggeriert, dass revolutionäre Kräfte keine Reformen durchsetzen können und wollen. Die Geschichte der Arbeiter*innenbewegung zeigt, dass das Gegenteil richtig ist.
Anstelle der Orientierung an Bewegungen geben die Verfasser:innen die Perspektive von „Basisarbeit, die Gegenmacht von unten aufbaut“, aus und sehen als zentrales Mittel hierfür offenbar „eine zuspitzende, eine bissige und witzige Art der Öffentlichkeitsarbeit“. Mit dieser Öffentlichkeitsarbeit – die Partei immer im Zentrum gedacht – solle eine „gesellschaftliche Bewegung für eine solidarische Republik“ aufgebaut werden. Anstelle konkreter Forderungen, die Kennzeichen breiter Bewegungen sind, sollen sich Menschen für eine „solidarische Republik“ bewegen – unklar bleibt, welchen Ansatzpunkt diese vage Forderung nach einer „solidarischen Republik“ für den Aufbau von Bewegungsstrukturen vor Ort bieten soll, oder ob nicht doch das Ziel ist, dass die reine gedankliche Vision einer solchen Bewegung die Politik in Parlamenten und Regierungen begleiten soll, um der Teilnahme am bürokratischen Politikbetrieb, der Mitwirkung an Regierungen, der Arbeit mit manchmal notwendigen, oft aber unzulässigen Kompromissen, höhere Weihen zu verleihen.
„Leitplanken” für die Partei
Mit ihren Thesen wollen die Verfasser:innen „Leitplanken für die Neuaufstellung der LINKEN“ bestimmen. Diese sollen zugleich Grundlage für das geforderte „strategische Zentrum“ sein.
Statt Offenheit des politischen Prozesses soll es offenbar die Sicherheit geben, dass niemand mehr von der Straße abkommt – gewährleistet durch etwas, das als „demokratisch-sozialistischer Straßenverkehrsbehörde“ wohl treffend beschrieben wäre.
Eine Partei, die tatsächlich auf Bewegungen orientiert und in widerständigen Organisierungen innerhalb der Gesellschaft verwurzelt ist, wirkt durch ihre Mitglieder auf allen Ebenen – durchaus auch durch Abgeordnete im Parlament. Als Bewegung verstandene Politik ist ein Experimentierfeld, in dem jeweils vor Ort Entscheidungen über die politische Arbeit und die politischen Botschaften getroffen werden. Nicht die große Arena des Bundestags ist der hauptsächliche Orientierungspunkt einer solchen Politik, sondern die Diskussion am Arbeitsplatz, in der Kneipe oder in einer Bürgerinitiative.
Nur wer den hauptsächlichen Orientierungspunkt der Tätigkeit aller Parteimitglieder in der Eroberung von Positionen in Parlament, Regierung und Staat sieht, wer die Mitglieder vorrangig als Botschafter einer zentral konzipierten Öffentlichkeitsarbeit der Partei sieht, braucht Leitplanken, um sicherzustellen, dass die zentrale Botschaft auch unverfälscht die Adressaten erreicht. Ob und wie dieser Ansatz die Masse der Mitglieder, die sich ohne Aussicht und zumeist ohne Orientierung auf eine Betätigung als Berufspolitiker:in oder eine Anstellung in Fraktionen, Parteiapparat, gesellschaftlichen Stiftungen oder kommunalen Posten engagieren, mit einem solchen Konzept, dass ihnen vorrangig die Aufgabe zuweist, Überbringer zentraler Botschaften der Partei zu sein, motiviert, bleibt unklar.
Kanalisierung der Willensbildung
Die Anforderungen der Verfasser:innen an ein „entstehendes strategisches Zentrum“ sind aus organisationspolitischer Sicht durchaus nachvollziehbar: es soll „strategiefähig und deshalb lernfähig“ sein, „plural zusammengesetzt“ sein und „praktische Vorschläge für die Partei“ anbieten. Es erfordert ein „weitgeknüpftes Netz von Angehörigen und Multiplikatoren“ und erfordert „Selbstdisziplin“ und die Wertschätzung „innerparteilicher Opposition“, „lebhafte und kontroverse demokratische Diskussionen“ und muss der Neigung zu Formelkompromissen entgegenwirken.
All diese Anforderungen sind sinnvoll. Dennoch ergibt sich ihre Dringlichkeit im Rahmen der Parteikonzeption, die den Verfasser:innen vorschwebt, vor allem aus dem Umstand, dass die politischen Impulse aus der Partei wesentlich auf die zentrale Willensbildung der Partei gerichtet sind und dementsprechend kanalisiert werden müssen, um daraus eine politische Position und eine Handlungsorientierung der Gesamtpartei zu schaffen. Jedoch erhält die zentrale Willensbildung der Partei nur deshalb diese herausgehobene Bedeutung, weil das politische Wirken der Partei hauptsächlich als Wirken über das Parlament, über Regierungshandeln und über staatliche Maßnahmen gedacht wird – und nicht als Wirken in Bewegungen und den vielen Orten, an denen Menschen außerhalb der institutionalisierten Politikbetriebs zusammenkommen.
Offene Fragen
Zum Ende des Textes formulieren die Verfasser:innen einige Fragen, die sie als klärungsbedürftig sehen. Trotz der Orientierung der Partei auf „mit der Klassenstruktur verbundene[n] Ausbeutungs-, Unterdrückungs- und Benachteiligungsverhältnisse“ bleibe offen, „auf welche Teile der unteren Klassen […] wir uns vor allem beziehen, wie „alte und neue soziale Bewegungen verbunden werden können“. Die Konzeption der Klimapolitik müsse mit „mehr Leben“ gefüllt werden, wobei das Augenmerk mehr auf die Folgewirkungen des ökologischen Umbaus, etwa in den Betrieben, gerichtet wird, und weniger auf die gesellschaftlichen Strukturen, die unseren Alltag und Konsum ebenso wie Investitionen bestimmen, und deren Anreize den notwendigen ökologischen Umbau blockieren.
Was sind Bewegungen?
Die Verfasser:innen schreiben, die Partei müsse „in Initiativen und Bewegungen aktiv sein, wo sie mit Menschen zusammenarbeitet, die ein radikaleres politisches Bewusstsein entwickelt haben“. Sie unterstellen damit ein Bild von Bewegungen als Sammelpunkte von politisch „aufgeklärten“ Menschen. Reale Bewegungen sind das jedoch nicht. Sie bestehen vielfach aus Menschen, die ein sehr unterschiedliches und oft auch in sich widersprüchliches Bewusstsein tragen. Oft finden in diesem Bewusstsein einzelne fortschrittliche Elemente neben zahlreichen reaktionären Ideen. Es kann auch nicht, wie die Verfasser:innen vorschlagen, vorrangig darum gehen, „möglichst viele dieser Menschen als Mitglieder und Aktive für unsere Partei“ zu gewinnen.
Notwendig ist vielmehr, dass die LINKE aus dem Dunstkreis von staatsorientiertem Politikbetrieb einerseits und explizit progressiven Initiativen, vorwiegend aus dem akademischen Milieu heraus, heraustritt und als Mitstreiter und Motor in den realen Bewegungen, seien es Streiks oder Proteste gegen die Beteiligung Deutschlands am Krieg in der Ukraine, auftritt – auch dann, wenn es in diesen Bewegungen manchmal politische Misstöne und nicht überall nur progressives Denken gibt.
Statt dessen postulieren die Verfasser:innen: „Wir haben den Enttäuschten eine Stimme gegeben. Das war wichtig. Aber […] diese Zeiten sind vorbei […].“ Ein „Plan to win“ soll deutlich machen, wie aus „Wollen und Sollen eigentlich Gesetze werden“. Besser kann die Staatsorientierung und Professionalisierung der Politik, die idealistische Konzeption, die den Verfasser:innen vorschwebt, kaum auf den Punkt gebracht werden. Statt „harte[r] Opposition“, die – so gestehen die Verfasser:innen zu – durchaus notwendig sei, müsse die Partei „ihren Platz neu bestimmen“. Eine Antwort auf die Frage, wie eine Partei, die eine „politische Lücke“ ausfüllt, Reformkonzepte in Gesetze transformiert, soll „in 3 Minuten am Infostand“ gegeben werden können – wie dies geschehen soll, ohne zugleich zahlreiche Illusionen in den Staat, die bürgerliche Gesellschaft und die politischen Möglichkeiten in einem kapitalistischen System, das sich immer krisenhafter entwickelt, zu bestärken, lassen die Verfasser:innen offen.
Dabei hat sich in der Geschichte immer wieder gezeigt, dass breite Bewegungen für Veränderungen der gesellschaftlichen Verhältnisse wichtiger für deren Erfolg waren als die Frage, wer regiert und welche Mehrheitsverhältnisse im Parlament vorliegen.
Haltung zu Krieg und Frieden zur Disposition gestellt
Die Verfasser:innen werfen zudem die Frage der „Außen- und Sicherheitspolitik“ der Partei auf. Dabei übernehmen sie in ihrer Wortwahl die offizielle Diktion, anstatt beispielsweise von „Widerstand gegen Krieg und Imperialismus“ zu sprechen. Zunächst werden diejenigen, die an den im Erfurter Programm niedergelegten Positionen festhalten wollen, mit dem Verdacht belegt, sie würden dies tun, weil dieses Politikfeld für sie „identitätsstiftend“, statt rationaler Argumentation würden sie mit Beleidigungen wie „Bellizisten“ arbeiten.
Ganz im Sinne der Strategie der Verfasser:innen, dass die Partei über das „Machen“, über die Beteiligung an staatlicher Politik, Vertrauen und Zustimmung gewinnen müsse, wird der Außen- und Sicherheitspolitik die Aufgabe zugewiesen, „Menschenrechte, Demokratie und sozialen Fortschritt zu stärken.“ Dabei suggerieren sie, es bestünde tatsächlich Hoffnung, dass deutsche Panzer oder auch deutsche Diplomatie in diesem Sinne außen- und sicherheitspolitisch wirken könnten. Aus der Sorge heraus, dass der deutsche Staat „nicht verteidigungsfähig“ wäre, wird abgeleitet, dass die Ablehnung der NATO vielleicht doch im Rahmen einer Debatte über „Außen- und Sicherheitspolitik“ zur Disposition gestellt werden könnte. Die Verfasser:innen erkennen offenbar, dass die Positionen der LINKEN zur Krieg und Frieden nicht mit dem Konzept der Mitverantwortung für staatliches Handeln, mit dem Ziel der Schaffung einer wohlmeinenden politischen Elite, vereinbar ist und daher auch die Frage im Raum steht: „Wen überzeugt eine solche Sicherheits- und Verteidigungspolitik?“ Die Verfasser:innen gehen in diesem Text nicht so weit, die bestehenden Positionen der LINKEN hierzu offen in Frage zu stellen - aber sie bereiten eine Diskussion vor, die genau diese Tendenz in sich trägt
Eine sozialistische, internationalistische und antiimperialistische Perspektive geht davon aus, dass die Ausgebeuteten und Unterdrückten aller Länder für den Kampf gegen Krieg und Aufrüstung gewonnen werden müssen. Sie geht davon aus, dass es auch in der Außenpolitik einen unüberbrückbaren Interessengegensatz zwischen den herrschenden und den unterdrückten Klassen gibt und wir immer aus der Perspektive unserer Klasse auf die Auseinandersetzungen zwischen den verschiedenen imperialistischen Mächten blicken müssen. Das bedeutet auch, dass Deutschland als einer der wichtigsten imperialistischen Staaten seine Außen- und Sicherheitspolitik innerhalb dieses Systems nicht in unserem Interesse ausrichten kann.
Hoffnung auf die politische Lücke oder Bewegungsorientierung?
Der von den Verfasser:innen vertretene Politikansatz spiegelt die Tatsache wider, dass unsere vor mehr als 15 Jahren gegründete Partei DIE LINKE immer stärker von der Arbeit in Parlamenten, zum Teil auch in Regierungen, geprägt wird. Daran ist die Partei nicht allein schuld, denn es trifft zu, dass es nach den Protesten gegen die „Hartz-IV“-Gesetze und die „Agenda 2010“ nicht den erhofften breiten Aufschwung von Bewegungen gab, die die Basis der Partei beleben hätten können und die dem Einfluss des Politikbetriebs ein Gegengewicht entgegensetzen hätten können.
In den Jahren nach der Wirtschaftskrise 2008 schien es auch zunächst so, als ob die gesellschaftliche Entwicklung auf einen stabilen Pfad eines liberalen Kapitalismus mit sozialen Komponenten einschwenken würde. Heute jedoch ist die krisenhafte Tendenz der geschichtlichen Entwicklung unübersehbar. Die ungelöste Frage der Bewältigung der Klimakrise überlagert sich mit dem Heraufziehen immer stärkerer imperialistischer Spannungen. Immer stärker wird das Interesse der Herrschenden sichtbar, den politischen Raum zu schließen, um die Gesellschaft in Zeiten der „Zeitenwende“ mit autoritären Konzepten zu stabilisieren.
Die der Theorie des politischen Pluralismus entspringende Vorstellung einer „politischen Lücke“ erscheint in einer solchen Zeit wenig überzeugend. Ebenso wenig überzeugend ist die Vorstellung, die LINKE könne durch „Machen“, durch Teilnahme an der politischen Verwaltung in den Fesseln des Staatsapparats, die notwendige gesellschaftliche Gegenmacht organisieren. Stattdessen ist eine Rückbesinnung der Partei auf die Interessen und damit die Klassengegensätze in der Gesellschaft, eine kritische Haltung gegenüber dem Staat und dem Politikbetrieb insgesamt und eine Orientierung auf die Organisierung der Klasse und auf Bewegungen als eigenständige, unabhängige – und manchmal auch anstrengende – Kräfte der politischen Veränderung notwendig.