Wissen, wohin wir wollen
Es gibt keine konsistente Vision für DIE LINKE. Das hat verschiedene Ursachen. Nicht zuletzt liegt es an der Selbstbeschäftigung der letzten Jahre. Es war keine positive Selbstbefassung, die nötig ist, um ein stimmiges gesellschaftliches Projekt zu entwerfen, Pläne dafür zu schmieden und eine gemeinsame Identität auszubilden. Die Debatten der letzten Jahre waren so destruktiv und toxisch, dass manche beim Wörtchen „Identität“ jetzt wahrscheinlich schon aufgeschreckt sind. Ja, Identität, ohne sie geht es nicht, genauer: Kollektividentität. Die Identitätsbildung wurde von der historischen Arbeiterbewegung stark priorisiert, die sich sogar als dreifache Bewegung definiert hat: als politische, als ökonomische und als kulturelle. Hinter diese Haltungen sind wir nach den verkorksten Ablenkungsdebatten um Identitäts- vs. Klassenpolitik und um den angeblichen Verlust der weißen Arbeiterschaft durch zu viel Solidarität mit migrantischen oder weiblichen Mitgliedern der Arbeiterklasse sehr weit zurückgefallen. Marx ernst zu nehmen, hätte auch damals geholfen.
Ich fühle irgendwie Erleichterung, während ich diese Zeilen schreibe, auch weil die Scheingefechte und persönlichen Angriffe, die die Veröffentlichung dieses Textes zwangsläufig nach sich gezogen hätte, mit der Abspaltung eines Teils von Funktionären nun hoffentlich ausbleiben werden. Machen wir uns ehrlich: Es wird sehr schwer, die gegenwärtige Krise der LINKEN zu überwinden und ich fürchte mich etwas davor. Gleichzeitig werde ich wie viele andere nicht anders können, als an einem Weg aus der Krise mitzuarbeiten. Weil ich tief überzeugt bin, dass es eine sozialistische Partei braucht – dass wir eine sozialistische Partei brauchen. Was nicht akzeptiert werden kann, muss geändert werden, das gibt uns die Feministin und Schwarze Bürgerrechtlerin Angela Davis auf den Weg. Weitermachen, hilft doch nix, sagt ein mir vertrauter Genosse, wenn ich mutlos bin.
Deshalb möchte ich jetzt nach vorne schauen. Dass DIE LINKE keine konsistente Vision hat, liegt nicht nur an der inneren Sabotage und am Lähmungszustand der letzten Jahre. Es fehlt eine systematische Arbeit an dieser Vision und politische Führung dahin. Dafür ist es notwendig, dass wir ein paar Fragen klären und beantworten, die uns auch die Menschen stellen, deren Vertrauen wir gewinnen wollen. Das wird nicht mit einfachen Antworten wie „Kümmererpartei“, „Bewegungspartei“ oder „Regierungspartei“ getan sein, die ja oft nur Schlagworte in den Grabenkämpfen gewesen sind. Wir müssen ernsthaft reden. Im Folgenden will ich vier konkrete Punkte adressieren: die (Wirk-)Machtfrage, die Programmatik, die Sprache und die Kultur unserer Partei.
Erstens: Die (Wirk-)Machtfrage
Das größte Hindernis, unserer Partei Vertrauen zu schenken, ist mangelndes Zutrauen, dass wir irgendwas auf die Kette kriegen. Die (Wirk-)Machtfrage zu klären heißt, den Gebrauchswert der Partei zu definieren. Wir müssen klar machen: Wie entfalten wir gesellschaftliche Wirkmacht? Was sind unsere Strategien dafür? Davon kann es mehrere geben, die sich gegenseitig befruchten. Allerdings tun sich hier auch ein paar Probleme auf, nämlich, dass diese Fragen so unterschiedlich beantwortet werden, dass sich manche Antworten regelrecht ausschließen. Es gibt diejenigen, für die Rot-Rot-Grün/Rot-Grün-Rot die Antwort ist und wenig darüber hinaus. Es gibt diejenigen, für die diese Position gänzlich unmöglich und Verrat an den eigenen Idealen ist. Es gibt diejenigen, die bei jeder Frage die Massenbewegung als Lösung sehen, gänzlich unabhängig davon, ob die gesellschaftlichen Ausgangsbedingungen das hergeben oder nicht. Es gibt die, die in der gewerkschaftlichen Organisierung das Allheilmittel sehen, so dass man sich fragt, wozu es dann noch eine Partei braucht. Eine Partei ist weder eine Gewerkschaft noch eine soziale Bewegung. Und wenn sie nur Regierungsanhängsel ist, ist das zu wenig. Last but not least gibt es die, denen es genügt, dass im Parlament etwas Richtiges gesagt wird und die mir vorwerfen werden, dass ich hier bereits die falsche Frage stelle.
Das größte Hindernis, unserer Partei Vertrauen zu schenken, ist mangelndes Zutrauen, dass wir irgendwas auf die Kette kriegen.
Gleichermaßen ratlos und unkoordiniert sind wir in der Definition der Funktion von Parlamentsarbeit, was sicher auch durch den Zustand der Bundestagsfraktion befeuert wird. Im Parlament sagen, was richtig ist, sich sachlich in der Ausschussarbeit vergraben oder Opposition als Vorstadium, bis man mitregieren kann – es gibt keine konzertierte, strategische Überlegung bei uns, was eigentlich Parlamentsarbeit sein soll und in welchem Verhältnis sie zur Partei steht.
Diese Fragen müssen wir beantworten und zwar nicht nur auf dem Papier, sondern indem wir eine entsprechende Praxis dazu entwickeln. An ihren Früchten, sprich Taten, werdet ihr sie erkennen, heißt es im Evangelium (Matthäus 7,16).
Es wird immer Scharniere geben, mit denen verschiedene Herangehensweisen miteinander verbunden werden können. Und es ist sicher, dass für Niedersachsen andere Antworten gefunden werden als für Berlin, für Thüringen andere als für Hessen. Das Kunststück wird auf Bundesebene – noch schwieriger: in Europa – darin bestehen, unterschiedliche Praktiken miteinander zu verbinden und in eine kollektive Form, eine klar erkennbare Marke zu gießen: Das ist die Linke des 21. Jahrhunderts und sie ist nicht ohnmächtig.
Zweitens: Die Programmatik
Wenn man darüber nachdenkt, wie man etwas durchsetzt – und darum geht es bei der Machtfrage im Kern –muss klar sein, was dieses „etwas“ ist. Unsere Forderungen haben hohe Zustimmungswerte, weil es Forderungen sind, in denen sich die Interessen der Lohnabhängigen ausdrücken. In unsere Inhalte können wir daher großes Vertrauen haben. Wir müssen jedoch klar ziehen, in welchem Verhältnis die einzelnen Forderungen zueinander stehen. Rosa Luxemburg hat uns das Konzept „revolutionäre Realpolitik“ geschenkt, also ein richtiges Ausbalancieren von Nah- und Fernziel. Das ist eine Denkfigur, die wir von der kommunalen Ebene bis in die Europaebene durchdeklinieren können, für jeden Bereich, für jede Forderung. Eine solche Herangehensweise würde uns vor den Grabenkämpfen um abstrakte Forderungen bewahren, indem wir das Gemeinsame und Konkrete herausstellen.
Es besteht ein enger Zusammenhang zu Fragen gesellschaftlicher Wirkmacht (siehe 1.): Wo gibt es Erfolgsmöglichkeiten für eine konkrete Durchsetzung unserer Politik? Aber auch: Was ist jetzt richtig und trifft einen Nerv? Es kann nicht darum gehen, den Leuten falsch nach dem Munde zu reden, nur um Zustimmung zu bekommen. Das tun schon andere. Der italienische Marxist und KP-Vorsitzende der 1920er Jahre Antonio Gramsci hat in seinen Gefängnisheften die Widersprüchlichkeit des menschlichen Alltagsverstandes beschrieben: Darin sind Elemente, die ressentimentgeladen sind und die gesellschaftlich an sozialisiert sind. Damit sollten wir als Partei umgehen und überlegen, wie wir Sicherheit vermitteln. Es gibt aber auch Elemente, die nach vorne weisen, die mit Gefühlen und Werten von Solidarität und Gerechtigkeit verbunden sind. Daran müssen wir offensiv anknüpfen.
Es wird leider nötig sein, dass wir uns stark fokussieren, allein schon wegen begrenzter Ressourcen, aber, auch weil wir die Gegebenheiten der Aufmerksamkeitsökonomie nicht aushebeln können. Spätestens zur Bundestagswahl muss klar sein, mit welchen drei bis vier gesellschaftlichen Projekten und Forderungen DIE LINKE unmissverständlich verbunden wird. „Ah, die Linken, das sind doch die gegen den Sparhaushalt/die mit der Vermögensteuer/die mit der 4-Tage-Woche/ …“ Erkennbar und realistisch. Radikal und relevant. Das sind die Kriterien für solch einen Findungs- und Schärfungsprozess programmatischer Fragen, in dem es darum geht, einzelne Forderungen zueinander ins Verhältnis zu setzen und zusammenzudenken.
Drittens: Die Sprache
In einer Mediengesellschaft hängt viel von politischer Kommunikation ab. Das kann man doof finden und Medienarbeit von einem Standpunkt kritischer Kritik ablehnen. Das wird aber niemandem helfen, außer denen ein gutes Gefühl zu geben, die diese Position vertreten.
Unsere Ansprache und Kommunikation nach außen müssen wir als LINKE überdenken. Wir kommunizieren oft sehr verstandeslastig, teilen die neuesten Grafiken, die zeigen, warum unser Steuerkonzept das Beste ist. Das ist wichtig, aber der Mensch ist keine Rechenmaschine und besteht nicht nur aus einem Gehirn. Wir müssen neu lernen, die emotionale Seite des Menschen zu adressieren. Dafür sollten wir uns die Worte des marxistischen Philosophen Ernst Blochs zu Herzen nehmen, der in seinem Buch „Erbschaft dieser Zeit“ feststellte: „Nazis sprechen betrügend, aber zu Menschen; die Kommunisten völlig wahr, aber nur von Sachen“. Politik findet immer personalisiert statt. Das habe ich in der Vergangenheit unterschätzt.
Inhalte werden besser transportiert, wenn sie mit Personen und Geschichten verknüpft sind.
Personen sind Medien. Es geht dabei nicht um Personenkult und gerade nicht um kleine MdB-Ich-AGs, sondern um eine andere Vermittlung von Inhalten. Im Wahlkampf in Bremen habe ich mit vielen Bürger*innen gesprochen, die DIE LINKE gut finden und das an den beiden Senatorinnen festmachen. Das ist kein Zufall, denn sie stehen dort als Personen für DIE LINKE und machen etwas Abstraktes wie eine Partei oder ein politisches Programm konkret greifbar.
Viertens: Die Kultur
Gerade die Tatsache, dass die innere Destruktion der Partei nun in eine erklärte Abspaltung mündet, macht es notwendig, dass wir eine andere politische Kultur etablieren. Es ist gut möglich, dass neue Grabenkämpfe ausbrechen, weil die Herangehensweisen, die in der LINKEN zu finden sind, so unterschiedlich sind (siehe 1. und 2.). Entscheidend ist, auf welche Art und Weise wir die offenen Fragen erstens diskutieren und bearbeiten und zweitens wie wir Unterschiede und Widersprüche, die unaufgelöst bleiben werden, zukünftig aushalten.
Es ist unerträglich, wenn es intern nicht mehr möglich ist, Zweifel zu äußern oder Fragen zu stellen. Wenn etwa eine, die in Bezug auf die Positionierung für oder gegen Waffenlieferungen an die Ukraine ein Dilemma empfindet und das transparent macht, sofort als „Nato-Verräterin“ gebrandmarkt und bekämpft wird. Wenn einer, der im Ukrainekrieg für Verhandlungen ohne Vorbedingungen eintritt, als „Putinversteher“ tituliert wird. So ist eine Diskussion nicht mehr möglich. Manchmal ist es nicht einmal nötig, überhaupt etwas zu äußern – man wird bereits einem Lager zugeteilt. Eine Organisation, in der Zweifel und Fragen nicht mehr offen ausgesprochen werden (dürfen), wird denkfaul, unfrei und träge. Sie ist dann nicht mehr fähig, auf die Wendungen der Geschichte adäquat zu reagieren. Lenin schreibt 1917 in seinem schönen Text „Zu den Losungen“ über deren Rolle in bewegten Zeiten:
"Es ist allzu oft vorgekommen, dass selbst fortgeschrittene Parteien, wenn die Geschichte eine jähe Wendung macht, mehr oder weniger längere Zeit sich mit der neuen Lage nicht vertraut machen können und Losungen wiederholen, die gestern richtig waren, heute aber jeden Sinn verloren haben, ebenso ‚plötzlich‘ den Sinn verloren haben, wie die jähe Wendung der Geschichte ‚plötzlich‘ eingetreten war.“
Eine Losung organisiert eine Marschrichtung. Politische Akteure sollten ihre Losungen ständig überprüfen: Erstens an den realen gesellschaftlichen Gegebenheiten, zweitens an Möglichkeiten der Durchsetzbarkeit und drittens an dem Anspruch einer Sprache, die Menschen auch erreicht. Andernfalls droht man handlungsunfähig und damit unglaubwürdig zu werden. Eine entsprechende Kultur ist die Voraussetzung dafür, dass es für einen Modus der Kritik und Selbstkritik Raum gibt (letzteres ohne den maoistischen Ballast). Und noch einmal: Es geht dabei nicht um die Verleugnung von Programmatik und Prinzipien, im Gegenteil. Es geht um die Diskussion von Strategie und Taktik, um Selbstkritik, um die Suche nach dem Richtigen, um das Organisieren von Wirkmacht.
Weder Dogmatismus, noch Beliebigkeit. Weder handlungsunfähig im Konkreten, noch das große Ganze vergessend. Weder naiv, noch visionslos. Es gibt viele schöne Farbnuancen, die wir zu einem überzeugenden, fesselnden Bild verarbeiten können. Wir Künstler*innen haben es selbst in der Hand, die Ohnmacht und Leere des Chaos in eine überzeugende Form zu verwandeln.
Der Artikel ist zuerst in der Zeitschrift "LUXEMBURG" erschienen.