Den Grundkonsens erneuern. Für eine feministische LINKE
Aufruf linker Feministinnen
Wir sind Funktionsträgerinnen und Aktive in der LINKEN. Viele von uns haben eigene Erfahrungen mit sexueller Belästigung, verbalen oder körperlichen Übergriffen in dieser Partei und außerhalb gemacht. Damit sind wir nicht allein, weder in der Partei, noch in der Gesellschaft: Jede dritte Frau wird Opfer sexueller Belästigung oder Gewalt. Die Täter sind überwiegend Männer. Die Partei ist ein Teil der Gesellschaft, auch bei uns gibt es sexistisches Verhalten und sexualisierte Gewalt. Das sagen wir nicht, um Sexismus innerhalb der LINKEN zu relativieren, sondern um ihn in einen Kontext zu stellen und die Dimension des Problems zu benennen. Leider kann kein Gesellschaftsbereich von sich behaupten, frei von Sexismus zu sein: er kommt vor im Sport, in der Kultur, in der Politik, im Bildungswesen, am Arbeitsplatz, auf der Straße und im Club. Jeder einzelne dieser Bereiche ist gefragt, Strukturen zu schaffen, die Übergriffe verhindern und Betroffene schützen. Sexismus ist in der LINKEN nicht stärker, als im Rest der Gesellschaft, auch wenn es gerade so erscheinen mag.
Als linke Partei mit einem erklärten feministischen Selbstverständnis sind wir jedoch mehr als andere herausgefordert, sowohl für eine feministische Organisationskultur nach innen als auch für die Überwindung von patriarchalen Machtverhältnissen in der Gesamtgesellschaft einzutreten. Beides ist Teil unseres Kampfes für eine bessere und gerechtere Gesellschaft. Wir verändern uns, um die Gesellschaft zu verändern.
Die LINKE versteht sich als feministische Partei. Viele Feminist*innen – so auch wir – organisieren sich genau deshalb in der LINKEN und feministische Themen sind prägend für unsere politische Arbeit. Für uns steht fest: Sexualisierte Gewalt und sexistische Strukturen dürfen in unserer Partei kein Platz haben.
Gründliche Aufarbeitung
Wenn, so wie kürzlich in Wiesbaden, Fälle von sexueller Belästigung, Machtmissbrauch und sexualisierter Gewalt auftreten, müssen diese unabhängig aufgearbeitet werden, am besten mit Hilfe einer externen Begleitung mit professioneller Expertise – zusätzlich zu der Vertrauensgruppe des Parteivorstandes als erster Anlaufstelle für Betroffene. Die Betroffenen müssen ernst genommen, geschützt und ihnen zugehört werden. Der Parteivorstand hat am Mittwoch erste konsequente Schritte beschlossen. Das begrüßen wir.
In Aufarbeitungsprozessen sollten auch unsere Genossen Verantwortung übernehmen, denn die Aufklärung und Bekämpfung von Sexismus und sexualisierter Gewalt kann nicht auf Frauen, nicht-binäre, trans-, intergeschlechtliche und queere Menschen abgewälzt werden. Wir alle sind verantwortlich.
Klare, verbindliche Richtlinien/Protokolle
Um richtig zu handeln, ist es wichtig zu differenzieren: zwischen Sexismus oder sexistischen Belästigungen und zwischen sexualisierter Gewalt, Nötigung oder Vergewaltigung. Für alle sind Machtgefälle und Machtmissbrauch eine Grundlage, aber es bestehen zwischen Taten graduelle Unterschiede, die unterschiedliches Handeln verlangen. Für jeden spezifischen Fall brauchen wir verbindliche und klare Richtlinien und Verfahrensweise, die jeweils in Gang gesetzt werden, mit denen wir 1. gut handeln, 2. Betroffene schützen, 3. gleichzeitig keine Vorverurteilungen treffen und 4. die Rechte aller Beteiligten gewährleisten können. Solche Richtlinien würden auch das parteiliche Umfeld, das mit einem Fall umgehen muss, aus der Ohnmacht holen.
Wir brauchen nachhaltige, vertrauensvolle Strukturen, die Betroffenen nicht re-viktimisieren, sondern es ihnen ermöglichen, ohne Ohnmacht und Scham (wieder) Handelnde zu werden. Wir brauchen Strukturen, die sexuelle Belästigung, Übergriffe und das Ausnutzen von Machtpositionen eindämmen und langfristig auflaufen lassen. Wir müssen an die Wurzeln des Problems.
Kontinuierlicher Prozess transformativer Gerechtigkeit
Feministinnen in der LINKEN fordern seit langem, dass DIE LINKE eine Partei sein muss, in der Frauen und queere Menschen sich willkommen fühlen, eine Partei, in der sexistisches Verhalten nicht hingenommen oder unter den Teppich gekehrt wird und in der alle dafür die Verantwortung übernehmen. Wir wollen, dass sich bei uns alle engagieren können, in einer solidarischen Kultur des Umgangs. Wo patriarchale Unkulturen auftreten, wollen wir sie überwinden. In der Partei und in der Gesellschaft.
Die aktuelle Debatte wird von den Mitgliedern der Partei durchweg als schmerzhaft empfunden. Wir sehen in der nun aufgebrochenen Diskussion aber auch eine Chance, für einen echten feministischen und solidarischen Aufbruch in der LINKEN als Teil der Erneuerung der Partei, die unser gemeinsames Anliegen ist. Das sind wir auch den Wählerinnen, Sympathisantinnen und Frauen in diesem Land schuldig: Die LINKE muss als politische Kraft wieder auf die Beine kommen!
Wir sind überzeugt davon, dass die programmatischen Bekenntnisse zu einer feministischen Linken von der überwiegenden Mehrheit der Mitglieder und Mandatsträger*innen geteilt werden. Daran, sie im Alltag praktisch werden zu lassen, müssen wir gemeinsam arbeiten.
Sexualisierte Gewalt gedeiht in einer entsprechenden Kultur, in der Machthierarchien aufrecht erhalten, ausgenutzt und missbraucht werden.
Sie ist Bestandteil einer misogynen Kultur, in der Frauen abgewertet werden – und es ihnen nahe gelegt wird, andere Frauen abzuwerten, um von männlich geprägten Machtnetzwerken zu profitieren. Sexismus und Gewalt wachsen in einer Kultur, in der Menschen schweigen und vertuschen, weil es ihnen nützt, dass die Zustände so bleiben, wie sie sind und in der diejenigen, die aufbegehren, als Störenfriede und Nestbeschmutzer dargestellt werden.
Wir wollen, dass hingeschaut wird, dass zugehört wird, dass Machtgefälle reflektiert und kollektiv kritisch bearbeitet werden.
Uns geht es dabei um einen gemeinsamen kollektiven Lernprozess. Eine feministische Organisationskultur lässt sich nicht durch Beschlüsse herbeiführen, sondern erfordert auf Dauer angelegte Anstrengungen von uns allen auf allen Ebenen der Parteiarbeit. Dabei geht es nicht darum, einzelne vorzuführen oder gar öffentlich an den Pranger zu stellen. Es geht auf keinen Fall darum, eine Kultur der Angst zu etablieren, sondern im Gegenteil, eine Kultur des respektvollen Umgangs miteinander. Aber für alle! Dazu gehört Fehlertoleranz genauso wie die Bereitschaft zur selbstkritischen Reflexion bisheriger Gewohnheiten, die eben auch sexistisch sein können. Wir wollen, dass in einer solidarischen Kultur Grenzen deutlich gemacht werden können und respektiert werden. Wir wollen eine solidarische, eine feministische LINKE.
Die teils selbst sexistische und entwürdigende Berichterstattung sowie die Attacken auf unsere Parteivorsitzende Janine Wissler weisen wir zurück. Es ist eine völlige Verdrehung des Problems, nun eine Frau, stellvertretend für mutmaßliche Täter an den Pranger zu stellen.
DIE LINKE wurde als feministische Partei gegründet. Diesen Grundkonsens müssen wir ständig erneuern.
Wir schlagen konkret für die Bundesebene und die Landesverbände vor:
- Die Bestellung von den Parteihierarchien unabhängige Ombudspersonen als Anlaufstellen bei sexistischer Belästigungen und Übergriffen im Zusammenhang mit der Partei (zusätzlich zu der Vertrauensgruppe des Parteivorstands)
- Erarbeitung verbindlicher Leitfäden/Protokolle für verschiedene Formen von Sexismus, sexualisierter Belästigung und Gewalt unter möglichst breiter Beteiligung und unter Zuhilfenahme professioneller Expertise
- Aufklärung der Vorgänge in einem vertrauensvollen Gremium, ggf. mit externer Begleitung
- Arbeit mit den Betroffenen, die sie ernst nimmt und eine Re-Viktimisierung verhindert. Um Betroffene zu schützen, gehört auch die Möglichkeit einer vorübergehenden Suspendierung von Parteifunktionen des Beschuldigen dazu, die in der Satzung und Schiedsordnung der Partei verankert werden muss
- Auseinandersetzung mit der Person, die die Aggression ausgeübt hat, um eine Möglichkeit der Weiterentwicklung zu geben
- Ausschlussmöglichkeit bei fehlender Veränderungen in der Haltung oder bei besonders schwerwiegenden Taten
- Kollektive Verantwortung für die Gewährleistung der Persönlichkeitsrechte der Personen in diesem Prozess
- Spezifische Reflexionsrunden und Fortbildungen für die betroffenen Strukturen
- Überwindung einer patriarchalen Kultur, die Sexismus und sexualisierte Gewalt ermöglicht, stattdessen Herausbildung einer aktiven, solidarischen Parteikultur, in der Fälle von Sexismus und Machtmissbrauch bearbeitet werden können.
- Awarenessstrukturen bei Veranstaltungen mit klar definierten Aufgabenbereichen, die Vertrauen genießen
- Kontinuierliche Beschäftigung der Genossen mit Feminismus und Sensibilisierung für diese Themen (z.B. gut vorbereitete Männerplena als Pendant zu Frauenplena)
- Seminare/Weiterbildung zur Sensibilisierung für Sexismus/sexualisierte Gewalt für Mandatsträger und Personen in leitender Funktion
- Bildungsangebote für die Kreis- und Ortsverbände zu Feminismus und feministischer Arbeit in den Landesverbänden und auf Bundesebene
- In den Parlamenten sollten sich Abgeordnete dafür einsetzen, dass für Mitarbeitende der Fraktionen, der Abgeordneten und der Verwaltung unabhängige, fraktionsübergreifende Beschwerde- und Beratungsstellen geschaffen werden.
Autorinnen:
- Anna Fischer, Landessprecherin Bremen
- Bettina Gutperl, Parteivorstand
- Cansu Özdemir, Co-Fraktionsvorsitzende Hamburgische Bürgerschaft
- Caren Lay, MdB
- Claudia Haydt, Landesgeschäftsführerin Baden Württemberg
- Cornelia Möring, MdB
- Daphne Weber, Parteivorstand, Sprecherin Landesrat LINKE Frauen Niedersachsen
- Doris Achelwilm, Mitglied im Landesvorstand DIE LINKE. Bremen
- Gabi Lenkenhoff
- Gökay Akbulut, MdB
- Heike Sudmann, Parlamentarische GF Hamburgische Bürgerschaft
- Jana Seppelt, stv. Parteivorsitzende
- Judith Solty, Bezirksvorstand Berlin Friedrichshain-Kreuzberg
- Kathrin Flach-Gomez, Landessprecherin Bayern
- Kathrin Vogler, MdB
- Nina Eumann, Landesprecherin NRW
- Martina Renner, MdB
- Maja Tegeler, Abgeordnete Bremische Bürgerschaft, Parteivorstand
- Sabine Boeddinghaus, Co-Fraktionsvorsitzende Hamburgische Bürgerschaft
- Sabine Skubsch, Parteivorstand, Betriebsrätin
- Sahra Mirow, Landessprecherin Baden-Württemberg
- Sofia Leonidakis, Fraktionsvorsitzende der LINKEN in der Bremischen Bürgerschaft.
- Alex Wischnewski, Leiterin des Programms Globaler Feminismus der RLS
- Barbara Fried, stellvertr. Leiterin des Instituts für Gesellschaftsanalyse de RLS