Europäische Sicherheit organisieren
Eine Debatte über linke Sicherheitspolitik hat endlich begonnen.
Es ist Krieg in Europa. Russland hat die Ukraine überfallen. Tausende sind seit dem 24. Februar diesem Krieg zum Opfer gefallen. Die Zerstörungen in der Ukraine sind immens. Noch ist nicht absehbar, wann und unter welchen Bedingungen dieser Irrsinn beendet werden kann.
Dramatische Fehler
Nicht wenige haben seit Kriegsbeginn öffentlich erklärt, sie hätten sich in Putin und seiner Politik geirrt. Auch Vertreterinnen und Vertreter der LINKEN waren so zu hören. Allerdings bleibt für DIE LINKE nach wie vor völlig offen, ob denn das Eingeständnis dieses Irrtums auch in der Sache Konsequenzen hat und wenn ja, welche.
Zudem: Die Debattennotwendigkeit und der Klärungsbedarf in der LINKEN gehen weit über eine einzelne „Fehleinschätzung“ hinaus. Über viele Jahre wurde jede ernsthafte sicherheitspolitische Debatte im Keim erstickt. Jeder kleinen Abweichung von den programmatischen Kernsätzen wurde mit persönlichen Anfeindungen und öffentlichen Distanzierungen, offenen Briefen oder entrüsteten Dringlichkeitsanträgen auf Parteitagen begegnet. Damit muss Schluss sein. Eine Programmpartei wie DIE LINKE muss über ihr Programm streiten können, sonst ist sie keine (mehr). Sonst wird aus einem Programm ein Dogma.
Neben anderen Fragen haben wir uns in der LINKEN eine wichtige in den letzten Jahren nicht mehr ehrlich gestellt: Wird unsere Außen- und Sicherheitspolitik von den Menschen noch verstanden? Eines der gravierendsten Beispiele dafür: der Evakuierungseinsatz der Bundeswehr in Afghanistan. Die Mehrheitsposition von Partei und Fraktion, sich in dieser akuten Situation der Stimme zu enthalten, war eine dramatische Fehlentscheidung. Und alle, die im Wahlkampf im Sommer 2021 auf der Straße unterwegs waren, wissen das auch. Fast niemand außerhalb der eigenen Partei hat diese Enthaltung verstanden. Auch wenn sie von vielen so nicht gemeint war - es ist als Enthaltung zur Rettung von Menschenleben wahrgenommen worden. Der Mehrheit in der Partei war der interne Frieden wichtiger, als auf eine reale Notsituation angemessen und nachvollziehbar zu reagieren. Und neben jeder verteidigungs- oder menschenrechtspolitischen Erwägung gab es noch ein weiteres verheerendes Signal in diesen Wahlkampfwochen für all jene, die auf ein Mitte-Links-Bündnis nach der Bundestagswahl gehofft hatten: Diese LINKE will und kann nicht in die Bundesregierung. Politische Parteien, die so handeln, machen sich überflüssig. Die mehrheitliche Weigerung 2014, einer Beteiligung der Bundeswehr an der Mission zur Vernichtung syrischer Chemiewaffen zuzustimmen, wäre ein ähnliches Beispiel für eine LINKE, der das Festhalten an Glaubenssätzen im Zweifel wichtiger ist als entschlossenes Handeln in einer konkreten Situation. Und es gibt noch einige mehr.
Aber zurück zu Russlands Krieg gegen die Ukraine. Der bisherige sicherheitspolitische Befund der LINKEN zu Europa und darüber hinaus ist größtenteils ein verklärtes Echo aus dem Ende des 20. Jahrhunderts. Auch ich hätte mir gewünscht, der Prozess der „Charta von Paris für ein neues Europa"[1] hätte nach dem Ende des Kalten Krieges zu einer integrativen, gesamteuropäischen Sicherheitsarchitektur jenseits der alten Blockbündnisse geführt. Nur, dies ist schon lange eine Debatte der Vergangenheit. Sie führt uns in der aktuellen Lage kein Stück weiter. Länder wie Polen, Tschechien, die Balten etc. haben sich in freier Selbstbestimmung längst anders entschieden. In den Monaten vor Kriegsbeginn ist wieder viel über die Sicherheitsinteressen Russlands diskutiert worden. Ob sie berücksichtigt wurden oder nicht. Ob sie legitim sind oder nicht: Die Sicherheitsinteressen der mittel- und osteuropäischen Staaten haben in der linken Debatte nach 1990 selten Beachtung gefunden. Für eine europäische LINKE ein Armutszeugnis. Wie berechtigt die Sorgen der osteuropäischen Staaten waren und sind, sehen wir heute auf schlimme Weise. Länder über ihren souveränen Willen hinweg zu Pufferzonen zwischen Russland auf der einen und „dem Westen“ auf der anderen Seite degradieren zu wollen, hätte nie Eingang in linkes Politikverständnis finden dürfen. Dies missachtet(e) nicht nur das Selbstbestimmungsrecht, es erklärt(e) auch die Interessen Russland für wichtiger als die seiner Anrainerstaaten.
Der Fokus linker Außenpolitik lag in den letzten Jahren (eigentlich Jahrzehnten) fast ausschließlich auf einer Kritik an den USA und/oder der NATO. Und ja, es gab und gibt eine Menge zu kritisieren: Jugoslawien, Irak, Libyen, extralegale Hinrichtungen durch Drohnen… Nur sind Großmachtinteressen, die zur Not auch gegen das Völkerrecht durchgesetzt werden, keine Eigenart allein „des Westens“. Zum geopolitischen Streben Russlands und Chinas der jüngeren Vergangenheit hatte sich in der LINKEN kaum ein hörbares kritisches Wort gefunden. Einwände wurden mitunter als „China-Bashing“ brüsk zurückgewiesen. Kritik am heutigen Russland wurde begegnet mit dem Verweis auf die Millionen Opfer der damaligen Sowjetunion im II. Weltkrieg. Eine ehrliche Diskussion war und ist auf einer solchen „Grundlage“ nicht möglich. Ich hatte in meinem Debattenbeitrag vom Januar 2021 „Linke Sicherheitspolitik“[2] darauf hingewiesen, dass wir eine Antwort brauchen auf die weltweiten massiven Aufrüstungen, auch in Russland und China. Erst sein milliardenschweres jahrelanges Rüstungsprogramm hat Putin doch überhaupt in die Lage versetzt, sich am Syrien-Krieg zu beteiligen, die Krim zu annektieren und jetzt einen solchen Angriffskrieg gegen ein so großes Land wie die Ukraine überhaupt zu erwägen. Nuklear bestückbare russische Raketen stehen schon seit geraumer Zeit in der Reichweite mitteleuropäischer Großstädte, China hat mittlerweile die mit über 350 Kriegsschiffen und U-Booten zahlenmäßig größte Kriegsmarine der Welt. Es wird höchste Zeit, dass sich DIE LINKE, will sie Friedenspartei sein, diesen Realitäten stellt und sie nicht länger ignoriert oder relativiert. „Der Westen“ ist nicht schuld an jedem Problem dieser Welt. Und nicht allein „der Westen“ kann die Probleme der Welt lösen, wenn er nur wollte.
Kehrtwende der Ampel?
Seit der Rede von Bundeskanzler Scholz am 27. Februar 2022 war in vielen Kommentaren und Einschätzungen quer durch die politischen Lager zu lesen, dies markiere eine 180-Grad-Wende in der deutschen Verteidigungspolitik. Das ist falsch. Wenn es diese Kurskorrektur gegeben hat, dann schon 2014 auf der Münchener Sicherheitskonferenz mit dem sogenannten Münchener Konsens. Vor dem Hintergrund der damaligen völkerrechtswidrigen Annexion der Krim und der Besetzung von Teilen der Ostukraine durch Russland wurde der personelle und materielle Aufwuchs der Bundeswehr in Gang gesetzt. Das Weißbuch der Bundesregierung 2016[3] und die darauf aufbauende Konzeption der Bundeswehr 2018[4] folgten wenig später. Seitdem wächst die Bundeswehr, seitdem wird milliardenschwer investiert. Das 2-Prozent-Ziel der NATO wurde sowohl von Merkel als auch von Scholz unterstützt. 2018 bezifferte die damalige Bundesregierung auf meine Anfrage hin ihre Investitionsabsichten in die Bundeswehr bis 2030 auf 130 Milliarden Euro.[5] Beschaffungsprojekte, die auch jetzt wieder Schlagzeilen füllen, waren längst auf dem Planungszettel des Verteidigungsministeriums, bspw. die Nachfolge des Tornado oder der Schwere Transporthubschrauber, weil sie für eine Ausfüllung des beschlossenen Fähigkeitsprofils der Bundeswehr notwendig waren. Ansonsten würden in absehbarer Zeit diese Fähigkeiten der Bundeswehr aufgrund des Alters der bestehenden Systems schlicht ausfallen.
Wenn es eine Korrektur durch die Scholz-Rede gegeben hat, dann besteht sie darin, dass bis dahin die verabredeten Planungen für Größe und Ausstattung der Bundeswehr mittelfristig haushalterisch nicht abgesichert waren. Allerdings: Abgesehen von der Frage, ob der avisierte 100-Milliarden-Sonderfonds haushaltspolitisch als Instrument akzeptiert werden kann oder ob es sich dabei nicht eher um einen Schattenhaushalt handelt, muss bezweifelt werden, dass ein auf vier Jahre angelegter Fonds angesichts der Beschaffungsabläufe der Bundeswehr überhaupt funktionieren kann. Das Projekt Eurofighter hat laut Bundesregierung aktuell eine Verzögerung von 32 Monaten und eine Kostensteigerung seit der ersten parlamentarischen Befassung 1988 von 7,8 Milliarden Euro zu verzeichnen, der PUMA seit 2002 eine Verzögerung von 69 Monaten und eine Kostensteigerung von 1,4 Milliarden Euro.[6]
In manchen Kommentaren wird der Eindruck erweckt, die Linke müsse sich rechtfertigen für den schlechten Zustand der Bundeswehr. Das ist natürlich absurd. Alle Strukturreformen der letzten Jahrzehnte, alle verzögerten und gescheiterten Beschaffungsprojekte, alle Kostenexplosionen, alle nicht-beschafften Ersatzteile, alle unbesetzten Stellen in und bei der Bundeswehr, die verschwendeten Millionen für private Beratungsunternehmen gehen auf das politische Konto von Union und SPD.
DIE LINKE Debatte
In den letzten Wochen gab es interessante Debattenbeiträge von Mitgliedern der LINKEN, die außenpolitischen Veränderungsbedarf in unserem Programm anmahnen und dafür Vorschläge unterbreiten. Beispielhaft möchte ich gern verwiesen auf: Wulf Gallert „Linke Außenpolitik braucht die Rückkehr zu Marx“[7] (geschrieben vor Kriegsausbruch), Benjamin-Immanuel Hoff „Es herrscht Krieg in der Ukraine“[8], Paul Schäfer „Gedankenfragmente und Provokationen zum Ukraine-Krieg“[9], Susanne Hennig-Wellsow „Wir müssen reden“[10] oder Caren Lay „Linke Außenpolitik braucht ein Update“[11].
Ich freue mich, dass wir uns in der LINKEN endlich auf den Weg machen, unbequeme Fragen an uns selbst zu richten, alte Gewissheiten beiseite schieben und einen realistischen Blick auf unsere eigene inhaltliche Aufstellung und auf die Situation in der Welt werfen wollen. Aber klar, wenn es richtig ist, dass wir an einer Zeitenwende stehen, dann kann niemand erwarten, dass wir alle Fragen morgen beantwortet haben. Vieles wird eine Suchbewegung sein und bleiben. Das sollte uns nicht entmutigen. Alle ernsthaften politischen Akteure sind gezwungen, ihre Sichtweise zu überprüfen. Und es liegt auch in der Natur der Sache, dass Konservative andere Antworten finden werden als wir Linke. Darum besteht für mich auch kein Zweifel, dass DIE LINKE ihren Platz in diesen (lebens)wichtigen Debatten finden kann. Aber wir müssen uns trauen, diesen Platz auch wirklich zu suchen und auszufüllen.
An ein paar Knackpunkte will ich hier erinnern.
Landes- und Bündnisverteidigung sichern
Die verteidigungspolitischen Ankündigungen von Olaf Scholz sind teils auf massive Kritik gestoßen. Aus mehreren Gründen ist Kritik berechtigt: Erstens ist Vergleichbares für Bildung, Soziales oder Klima bisher ausgeblieben. Nicht erst seit der Pandemie sollten eigentlich alle verstanden haben, wie überfällig massive Investitionen in unser Gesundheitssystem, die Digitalisierung, wirksame Armustbekämpfung, kulturelle Teilhabe oder die sozialökologische Transformation sind. Und zweitens werden der Bestand der Schuldenbremse und der Verzicht auf eine Vermögensbesteuerung dazu führen, dass weiter deutlich steigende Ausgaben für Verteidigung im Zweifel immer zu Lasten dieser großen Aufgaben gehen. Eine solche Politik vergrößert gesellschaftliche Spaltungen und soziale Verwerfungen. DIE LINKE muss hier gegenhalten - und tut dies auch.
Aber: Spätestens seit dem 24. Februar 2022 kommt niemand mehr an der Frage vorbei, wie Landes- und Bündnisverteidigung in Europa effektiv und wirksam organisiert werden kann. Wählerinnen und Wähler erwarten darauf von uns zu Recht eine Antwort. Im Wahlprogramm der LINKEN 2021 tauchen diese Begriffe allerdings nicht einmal auf.
Sicherheit kann heute nur gemeinsam gewährleistet werden, und Deutschland muss seinen Beitrag in einem solchen Bündnis leisten. Das heißt ausdrücklich nicht, der Aufrüstung das Wort zu reden oder das 100-Mrd-Programm durchzuwinken. Aber DIE LINKE kann es sich nicht länger leisten, sicherheitspolitisch in einem quasi Nichtverhältnis zur Bundeswehr zu agieren. Wir müssen Aufgaben für die Bundeswehr definieren und daraus Ausstattungsbedarfe ableiten. Auch und gerade Landes- und Bündnisverteidigung kostet Geld, macht Investitionen in die Bundeswehr notwendig. Wie in der Vergangenheit de facto jede größere Beschaffung der Bundeswehr mit einem Nein zu versehen, war und ist keine akzeptable Antwort. Die Bundeswehr ist in vielen Bereichen objektiv in keinem guten Zustand. Die Gründe dafür sind vielfältig. Aber wer überbordender Aufrüstung etwas Glaubwürdiges entgegensetzen will, kann nicht einfach nur Nein sagen. Das läuft dem Sicherheitsbedürfnis der Menschen zuwider und geht an den Realitäten vorbei. Es gibt eine gut begründbare politische Linie jenseits des Kaputt-Sparen-Gejammers und der rüstungspolitischen Überkompensation der Ampel.
Für die Bundeswehr könnte dies heißen: klarer Fokus auf die Landes- und Bündnisverteidigung, Schluss mit der Überdehnung ihrer Aufgaben und Fähigkeitsanforderungen, Reform des Beschaffungswesen der Bundeswehr und Sicherstellung einer modernen und einsatzbereiten Ausstattung, Reduzierung der Sollstärke auf 150.000 Soldatinnen und Soldaten bei gleichzeitiger Integration in europäische Strukturen.
Europäische Sicherheit organisieren
Putin hat die Frage, ob die NATO in Zukunft noch gebraucht wird, unmissverständlich beantwortet: Ja. Das mag gefallen oder nicht, aber es ist so. Dennoch bleibt das Thema einer originär europäisch organisierten Sicherheit und einer größeren Unabhängigkeit gegenüber den Vereinigten Staaten relevant - und wird in seiner Bedeutung wohl noch zunehmen. Kürzlich war zu lesen, kein Land in Europa sei in der Lage, sich gegen Russland zu verteidigen. Nun, das muss es auch nicht, denn Bündnisstrukturen sind dafür gedacht, diese potenzielle Aufgabe breiter zu verteilen.
Der institutionelle Rahmen für eigenständige europäische Sicherheit kann nur die Europäische Union sein. Natürlich muss Deutschland auch in einem solchen Rahmen gemeinsam mit Frankreich eine europäische Führungsaufgabe wahrnehmen, schon aufgrund seiner Größe und ökonomischen Stärke. Eine durchgreifende Europäisierung der Verteidigung setzt jedoch die Bereitschaft zur Abgabe nationaler Kompetenzen an die EU und eine funktionierende demokratische Kontrolle dieser Angelegenheiten innerhalb der Institutionen der EU, vor allem durch das EU-Parlament, voraus. Ob die nationalen Politiken dazu bereit sind, bleibt abzuwarten. Zu einer Sicherheits- und Verteidigungspolitik, die sich als Bestandteil der europäischen Integration versteht und einzelstaatliche militärische Potenziale ablöst, sehe ich langfristig keine vernünftige Alternative. Die nationale Lösung ist keine. Wer nationaler Hochrüstung etwas entgegensetzen will, braucht einen integrativen Ansatz.
Es muss daran erinnert werden, dass die Beziehungen zwischen Ländern der Europäischen Union, allen voran Frankreich und Deutschland, und den USA bis vor kurzem alles andere als gut waren. Niemand kann sagen, ob Joe Biden womöglich der letzte US-Präsident ist, der bereit ist, die Sicherheit eines europäischen Landes mit amerikanischen Mitteln zu schützen. Europa braucht eine eigene Idee gemeinsamer Sicherheit und eigene Mittel für deren Umsetzung.
Völker- und Menschenrecht schützen
Ignoranz und Relativierung schwerer Menschenrechtsverletzungen haben uns als LINKE völlig unnötig schwer geschadet. Freiheit und Würde jedes einzelnen Menschen dürfen von uns nicht fragwürdigen politischen Opportunitäten untergeordnet werden.
Wer glaubwürdig Menschenrechtsverletzungen in den Diktaturen des Nahen und Mittleren Ostens oder von Demokratien wie den Vereinigten Staaten in Guantanamo oder im Irak anprangern will, darf nicht mit zweierlei Maß messen und zu den Zuständen in China, Russland oder Venezuela schweigen. Wer den Völkerrechtsbruch der USA im Irak oder anderswo verurteilt, darf nicht wenige Jahre später die russische Annexion der Krim und die Besetzung des Donbas relativieren. Eine LINKE wie im Falle des russischen Einsatzes eines völkerrechtlich geächteten Nervengiftes gegen den Oppositionellen Alexej Nawalny, die in Teilen eins zu eins die Erzählungen und Abwiegelungen aus dem Kreml übernahm, darf es nicht noch einmal geben. DIE LINKE ist eine Partei der Aufklärung, nicht der Desinformation.
Zur Wahrheit gehört: Einseitigkeiten und Opportunismus in Völker- und Menschenrechtsfragen sind nie allein ein Problem der Linken gewesen. Erst kürzlich hat die Türkei erneut völkerrechtswidrig die Kurden in Nordsyrien bombardiert. Nichts war zu hören von der Bundesregierung. Es schien ihr wohl nicht geboten, mal wieder. Und es bleibt ein fragwürdiger menschenrechtspolitischer Balanceakt der Bundesregierung, auf das Gas eines aktuell Krieg führenden Despoten verzichten zu wollen, um es durch Lieferungen Terror finanzierender und bis vor kurzem Krieg führender Despoten zu ersetzen. „Strategische Partnerschaften“ mit Diktaturen sollten endgültig der Vergangenheit angehören.
Im Januar 2021 schrieb ich zum Verbot von Gewalt und Gewaltandrohung in der Charta der Vereinten Nationen: „(…) Es brauchte klare Regeln für den Fall von drohenden oder ausgebrochenen (militärischen bzw. bewaffneten) Konflikten. Es sollte allein den Vereinten Nationen obliegen, die notwendigen Schritte einzuleiten. Das ist ein Punkt der Charta, den DIE LINKE bisher ausblendet bzw. ablehnt. Doch das wird aus meiner Sicht weder internationalen Erfordernissen noch denen einer in sich schlüssigen Position gerecht. Denn dieser Teil der Charta ist der völkerrechtskonforme Gegenentwurf zu dem Wild-West-Denken der Cowboys dieser Welt – egal, ob sie Bush, Trump, Putin oder Erdoğan heißen. (…)“[12] Dabei bleibe ich. DIE LINKE, die von sich behauptet „die Völkerrechtspartei“ zu sein, kann es sich nicht leisten, auf ein zentrales Instrument, nämlich die Durchsetzung dieses Rechts durch die Vereinten Nationen generell und ohne Ausnahme zu verzichten.
Sicherheit ganzheitlich denken
Auch wenn dies in den akuten Debatten über den seit Wochen wütenden Krieg Russlands in der Ukraine in den Hintergrund getreten ist: vorbeugende Konfliktvermeidung und der Abbau von Eskalationspotenzialen sind und bleiben unerlässlich. Sicherheitsdebatten müssen darum auch immer Debatten über ökonomische Dominanzen und Abhängigkeiten, faire Welthandelsbeziehungen, globale Ungerechtigkeiten und wirksame Klimapolitik sein und gehen weit über die Frage der Einsatzfähigkeit einzelner Armeen hinaus. Wie bereits oben erwähnt, ist es angemessen, daran zu erinnern, wer wieviel Kraft in welche Aufgaben steckt. Würden die großen Militärmächte der Welt, ob nun NATO, Russland, China oder andere eine annähernd vergleichbare politische und finanzielle Energie in diese globalen Megathemen investieren wie in ihr Militär, wären wir große Schritte weiter. Das dies nach wie vor ausbleibt, stellt ein zentrales, ja verhängnisvolles Versagen von Politik dar.
Armut, Wasserknappheit, steigender Meeresspiegel, ökonomische Ausbeutung… - all das hat nicht nur schon jetzt unmittelbare dramatische Konsequenzen für die davon betroffenen Menschen und Regionen, vor allem des globalen Südens, inkl. Flucht- und Vertreibungstragödien. Es vergrößert auch Konflikt- und Eskalationspotenziale zwischen Staaten aber auch nicht-staatlichen Akteuren. Hier hat die Linke viel Programmatisches vorzuweisen. Wichtig scheint mir, diese Ansätze nicht als generellen Gegenentwurf zu militärpolitischen Debatten zu sehen - alle Facetten gehören gemeinsam in eine komplexe Sicherheitsdebatte. Die zivilen Megathemen sind nicht trennbar von den militärischen.
Ein essenzielles Mittel der Konfliktvermeidung ist die Rüstungskontrolle. In diesem Bereich steht die Welt derzeit mehr oder weniger blank da. Die Gefahr einer nuklearen Eskalation ist in diesen Tagen so groß wie Jahrzehnte nicht mehr. Wichtige Eckpfeiler der Rüstungskontrolle sind in den vergangenen Jahren zerstört oder beschädigt worden: mal durch Kündigung, mal durch jahrelanges Unterlaufen. Der letzte wichtige Abrüstungsvertrag über die strategischen Potenziale Russlands und der USA, NewSTART, wurde Anfang 2021 auf den letzten Metern verlängert. In vier Jahren läuft er aus. Was danach kommt, ist ein großes Fragezeichen. INF ist Geschichte, Open Skies de facto auch. Der „Strukturierte Dialog“ zur konventionellen Rüstung ist eher ein strukturiertes Schweigen. Die Liste ließe sich fortsetzen. Aktuell einziges kleines Hoffnungszeichen ist der möglicherweise wieder zum Leben erweckte Atomdeal mit dem Iran. Auch dieses Abkommen stand und steht immer wieder in der Kritik. Es bleibt meines Erachtens richtig. In anderen (Zukunft)Feldern sind die Fortschritte nur sehr schwer zu erkennen, etwa bei der fortschreitenden Autonomie in und von Waffensystemen.
Niemand kann heute sagen, wann und unter welchen Bedingungen Gespräche mit Russland - und das ist dafür unabdingbar - zu all diesen Fragen wieder vertrauensvoll aufgenommen werden können. Ebenso wird China zu einem immer wichtigeren, aber nicht unkomplizierten Akteur in diesen Angelegenheiten. Bedenkt man, dass all dies eher in Jahren als in Monaten sondiert und vereinbart werden könnte, bleibt eigentlich keine Zeit zu verlieren. Und dennoch herrscht Stillstand - schon lange vor dem Krieg in der Ukraine.
Linke Sicherheitspolitik muss diesen Hebel internationaler Politik mit eigenen Ansätzen und Vorschlägen bereichern. Die wissenschaftliche Expertise dazu ist breit, viel zu selten hat sie allerdings die notwendige politische und parlamentarische Lobby. Eine Welt ohne Rüstungskontrolle gerät möglicherweise außer Kontrolle. Mit unabsehbaren Folgen.
Wie gesagt, es ist Zeit, dass sich DIE LINKE außen- und sicherheitspolitisch erneuert. Unsere Defizite in diesen Themenfeldern sind nicht zu übersehen. Viele in der Partei wollen diese Diskussion offen führen. Sie muss aber auch bald zu erkennbaren Ergebnissen führen.
[1] https://www.bundestag.de/resource/blob/189558/21543d1184c1f627412a3426e86a97cd/charta-data.pdf
[2] https://www.matthias-hoehn.de/fileadmin/lcmshoehn/user/upload/Debatte_Sicherheitspolitik_MatthiasHo__hn_210117.pdf
[3] https://www.bmvg.de/resource/blob/13708/015be272f8c0098f1537a491676bfc31/weissbuch2016-barrierefrei-data.pdf
[4] https://www.bmvg.de/resource/blob/26546/befaf450b146faa515e19328e659fa1e/20180731-broschuere-konzeption-der-bundeswehr-data.pdf
[5] https://dserver.bundestag.de/btd/19/012/1901241.pdf
[6] https://www.bmvg.de/resource/blob/5325320/1f15343d355c6d77c332b06f27ebd025/download-14-ruestungsbericht-data.pdf
[7] https://www.nd-aktuell.de/artikel/1160092.aussenpolitik-der-linkspartei-linke-aussenpolitik-braucht-die-rueckkehr-zu-marx.html
[8] https://www.benjamin-hoff.de/de/article/4091.es-herrscht-krieg-in-der-ukraine.html
[9] http://paulschaefer.info/PDFs/Ukraine-Krieg-und-Folgen-Positionsbestimmung.pdf?fbclid=IwAR0CxwLUBO0jmYakuArXzNiWbt9g0XOMsq08-qk5RykfIiORkCVpGXOu7eM
[10] https://www.susannehennig.de/nc/aktuell/detail/news/wir-muessen-reden/
[11] https://www.caren-lay.de/de/article/1693.linke-außenpolitik-braucht-ein-update.html
[12] https://www.matthias-hoehn.de/fileadmin/lcmshoehn/user/upload/Debatte_Sicherheitspolitik_MatthiasHo__hn_210117.pdf