Wo sind sie geblieben? Wähler*innen auf Wanderung
Christina Kaindl ist Bereichsleiterin für Strategie & Grundsatzfragen in der Bundesgeschäftsstelle der LINKEN und hat die Wähler*innenwanderung bei der Bundestagswahl 2021 ausgewertet.
Christina, DIE LINKE hat bei der Bundestagswahl massive Verluste erlitten. Deswegen drängt sich die Frage auf: Wo sind sie „unsere“ Wähler*innen denn hin?
Wir haben insgesamt über zwei Millionen Wähler*innen verloren. Den Großteil davon, also über 1,1 Millionen Wähler*innen, an Rot-Grün. Für die SPD haben sich 640 000 und für die Grünen 480 000 unserer Ex-Wähler*innen entschieden. 320 000 sind dieses Mal gar nicht wählen gegangen, 270 000 haben sonstige Parteien gewählt, 110 000 die FDP und 90 000 die AfD.
Also ist es nur eine Legende, dass unsere Wähler*innen vor allem wegsterben oder wir sie an die AfD verlieren?
Ja. In Sachen AfD sind die Zahlen eindeutig, wir haben mehr als zehn Mal so viele Stimme innerhalb des „Mitte-Links-Lagers“ verloren. Es sind tatsächlich 250 000 unserer Wähler*innen verstorben. Das macht auf jeden Fall was aus, aber wir haben 150 000 Erstwähler*innen dazugewonnen.
Warum haben sich die Wähler*innen auf Wanderschaft gemacht?
Die Motive für Wähler*innen-Wanderungen sind unterschiedlich, teilweise auch widersprüchlich. Aber wenn man Nachwahlbefragungen und andere Umfragen zusammen betrachtet, dann lassen durchaus plausible Erklärungsansätze finden. Die Wähler*innen sind weniger von uns weg, sondern vor allem zu anderen hingelaufen: Wähler*innen, die wir verloren haben, waren überwiegend vom anderen Parteien überzeugt (60%) und nur ein Drittel ist gegangenen, weil sie von der LINKEN enttäuscht waren.
Auch wahltaktische Fragen wie Regierungsbeteiligung und Koalitionen spielten eine Rolle: Die Hälfte unserer Ex-Wähler*innen wünschen sich eine von der SPD geführte Bundesregierung, 28% wollten die Grünen vorne sehen. 63% unserer verlorenen Wähler*innen befürworten eine rot-rot-grüne Regierungskoalition – also die Regierungskoalition, die es nur mit einer stärkeren LINKEN im Bundestag gegeben hätte.
Die Umfragen kannten leider schon länger nur eine Richtung für uns: langsam aber sicher abwärts. Es hat sich also schon lange vor dem Wahltag angedeutet, dass da was schief läuft.
Nein, das stimmt so nicht. In der Parteikrise 2011 und danach waren wir auf fast 5 Prozent in den Umfragen gefallen, dann in den Bundestagswahlen 2013 mit 8,6 und 2017 mit 9,2 Prozent eingelaufen. Das ist erst mal kein Abwärtstrend. Noch immer haben wir im vergangen Wahlzyklus (20 Wahlen) bei mehr Wahlen zugelegt als verloren. Aber die Verluste sind größer. Vor allem im Osten sehen wir, dass wir das hohe Niveau der letzten Jahre nicht halten konnten. Das Wachstum im Westen war dagegen, außer in den Stadtstaaten, viel zu gering. Mit dieser Bundestagswahl lagen die Ergebnisse teilweise noch unter den niedrigen Landtagswahlergebnissen. Das war im Westen bisher andersrum.
Ab noch im Frühjahr 2020 sah es doch ganz gut aus, oder?
Ja, vor der Pandemie lagen unsere Umfragen bei bis zu 10 Prozent. Mit Beginn der Pandemie sehen wir einige Abwärtsschritte in den Umfragen: zunächst die Stärkung der Regierung, v.a. Merkel und ihr Krisenmanagement. Unsere Position während der Pandemie war und ist sachlich richtig, aber wir sind als die soziale Opposition dabei zu wenig durchgedrungen. Dann sah es lange nach einer Regierungsmehrheit von CDU und Grünen aus, auch viele Wähler*innen aus unserem Potenzial wollten in dieser Konstellation die Grünen stärken.
Zu unserem Parteitag im Februar 2021 sieht man einen leichten Anstieg in den Umfragen, den wir nicht halten konnten. Im April gibt es einen Knick, auch bei der Wahrnehmung der „Zerstrittenheit“ der Partei – was eigentlich nur auf Sahra Wagenknechts starke Präsens in den Medien zurückgeführt werden kann. Die Kommunikation, dass wir uns um soziale Fragen oder sozial schlecht gestellte Wähler*innen nicht mehr kümmern würden, was übrigens nicht zutrifft, demobilisiert in beide Richtungen: sowohl sozial schlecht gestellte potenzielle Wähler*innen als auch Menschen aus Milieus, die als „falsche“ neue Klientel benannt werden. Erfahrungsgemäß brauchen wir aber beide Wähler*innengruppen.
Aber eine schwarz-grüne Mehrheit war doch schon bald außer Reichweite …
Ja, die CDU hat in der heißen Phase viele Wechselwähler*innen an an die Scholz-SPD verloren. Es entstand eine Dynamik zur SPD hin, die dadurch die Chance hatte, stärkste Partei zu werden und damit den Auftrag zur Regierungsbildung zu bekommen. Die Befragungen zeigen, dass die Hälfte der von der LINKEN weg gewechselten Wähler*innen eine SPD geführte Regierung wollten. Fast zwei Drittel bewerteten rot-rot-grün als gute Regierung – mehr als jede andere Kombination. Die Abwanderung ist also keine Wanderung hin zu einer anderen Regierung gewesen. Entweder haben die abgewanderten Wähler*innen gedacht, sie bekommen r2g auch ohne DIE LINKE zu wählen bzw. nur wenn sie die SPD zur stärksten Partei machen. Oder es war eine Entscheidung für „den Spatz in der Hand“.
„Aus Fehlern lernen – Eine Analyse der Bundestagswahl 2017“ ist eine interessante Studie, in der die SPD ihr Wahldebakel von 2017 aufarbeitet. Die SPD scheint daraus bei dieser Wahl tatsächlich gelernt zu haben – mit Erfolg.
Ja, diese Aufarbeitung des Wahlkampfes der SPD 2017 ist sehr detailliert. Der SPD ist es gelungen, die Fehler der letzten Wahl zu vermeiden – da endete der Aufschwung der SPD in den Umfragen oft ein halbes Jahr vor der Wahl – und den Schwung zum Wahltag hin zu steigern. Zusätzlich konnte sie von den Fehlern von Laschet und Baerbock profitieren. SPD und Grüne haben sich außerdem offensichtlich damit befasst, was mögliche Wechselwähler*innen eher davon abhält zur LINKEN zu gehen, welche Themen im Wähler*innenpotenzial umstritten sind und Wähler*innen zur SPD und den Grünen treibt. Das haben wir im Wahlkampf ja schmerzlich erfahren: Es war kein Zufall, dass so viel über die NATO gesprochen wurde.
Dann sind wir ja schon bei unseren Inhalten: Wegen welchen Themen werden wir gewählt – oder, wie das Wahlergebnis nahelegt, auch nicht?
Hier unterscheiden wir zwischen Wähler*innen und möglichen Wechselwähler*innen. Unser Klientel ist mit unserem thematischen Angebot durchaus zufrieden: Sozialpolitik, Arbeit, Rente, Klimagerechtigkeit, Gesundheit, Wohnen und Ungleichheit sind die wichtigsten Themen für unsere Wähler*innen. SPD und Grüne Wähler*innen, die sich überlegen DIE LINKE zu wählen, geben v.a. Sozialpolitik und den Einsatz für den Frieden als zentrale Gründe für die Wahl der LINKEN an - Außenpolitik sei dagegen das größte Hindernis für uns zu stimmen. Bei den LINKEN Anhänger*innen rangiert Umweltpolitik als Grund DIE LINKE zu wählen deutlich vor der Wirtschafts- und Außenpolitik.
Dann ist es wohl kein Zufall, dass SPD und Grüne sich im Wahlkampf ausgerechnet auf diese Themen konzentriert haben?
Natürlich nicht, denn das wussten die SPD und die Grünen ja auch. Sie hatten eine klare strategische Kommunikationslinie gegenüber der LINKEN: Es wurde vermieden, sich mit unseren inhaltlichen Vorschlägen auseinanderzusetzen. Stattdessen haben sie die Außenpolitik, vor allem Auslandseinsätze und den NATO-Austritt, zum zentralen Kritikpunkt an der LINKEN zu gemacht. SPD und Grüne haben das als Argument für unsere mangelnde Regierungsfähigkeit und gegen eine rot-grün-rote Koalition verwendet. Damit wollten sie ihre eigenen Wähler*innen halten und welche von uns gewinnen. Etwa die Hälfte der LINKE-Wähler*innen lehnt die Forderung nach Auflösung der NATO ab, genau wie eine Mehrheit unseres weiteren Wähler*innenpotenzials. Außenpolitik sehen unsere Wähler*innen als den Politik-Bereich, mit dem geringsten Veränderungsbedarf. Wenn solche Themen im Wahlkampf dominieren, ist das nicht hilfreich. In der strategischen Kommunikation geht es darum, Themen nach vorne zu stellen, die für möglichst viele attraktiv sind und die Anhängerschaft vereinen, statt Konflikte und Unterschiede zu betonen.
Außenpolitik war bereits 2017 ein zentraler Kritikpunkt der Grünen an uns. Inwiefern wurde das in unserer Wahlstrategie bzw. Kommunikationsstrategie berücksichtigt?
2017 ist es ja gelungen die sozialen Themen zu spielen und darin unsere Funktion – auch im Unterschied zu SPD und Grünen – zu kommunizieren. Merkel hatte sich damals stark auf Außenpolitik konzentriert, dann gab es aber einen Umschwung durch den viel beachteten Auftritt dieses Pflegers. Soziale Themen wurden stärker gespielt, das hat auch uns die Kommunikation dazu ermöglicht. Wir haben uns bemüht als treibende Kraft, auch in Richtung SPD und Grüne aufzutreten, durchaus mit Erfolg. Das hatten wir uns auch diesmal vorgenommen: Mit unseren starken Themen treiben – also nicht nur Positionen nennen, sondern angreifen, Mängel aufzeigen, Reaktionen provozieren. Die Diskussionen um Außenpolitik zieht uns eher auf ein für uns ungünstiges Feld.
Was wissen wir denn noch über unsere Wähler*innen?
DIE LINKE hat sozial breit gefächerte Anhänger*innen. Dabei lassen sich Unterschiede zwischen den sozial schlechter und den besser gestellten Wähler*innen feststellen: Unter sozial schlechter gestellten Wähler*innen ist Anteil der Stammwähler*innen höher. Aber auch der Nichtwähler*innenanteil, denn sie haben geringere Erwartungen, dass sich durch Wahlen etwas an ihrer Lage ändern lässt. Sie wählen uns wegen unseres Programms bzw. ganz konkreter Erfolge wie dem Mietendeckel in Berlin, außerdem ist ihnen die Präsenz vor Ort wichtig. Daraus folgt, dass wir über konkrete Missstände und wie wir sie abstellen wollen, sprechen müssen - und dass wir viel Arbeit in die Mobilisierung zuden Wahlurnen – und nicht so sehr in die Überzeugung - stecken müssen. Mobilisierung funktioniert kaum über Text und Gedrucktes, sondern mittels persönlicher Ansprache.
Weil ärmere Menschen weniger zur Wahl gehen, ist aufsuchender Wahlkampf besonders wichtig. Das ist ein Grund, warum auch andere Parteien, auch weltweit, auf Haustürwahlkampf in diesem Wähler*innensegment setzen. Es ist ein Irrtum zu denken, dass wenn man nur die richtigen Sachen sagt, die Menschen tatsächlich zur Wahl gehen und uns wählen. Es geht nicht vor allem ums Wording sondern darum, dass DIE LINKE direkt erlebt werden kann. Es ist ein Erfolg der Demobilisierung von Angela Merkel und eine Folge der Agendapolitik, dass viele Menschen glauben, dass sich durch Wahlen nichts an ihrer Lebenssituation ändert. Ein vorwiegend werte- und haltungsorientierter Wahlkampf wird oft wahrgenommen als ‚die labern nur rum’. Menschen im prekären Milieu zum Wählen zu mobilisieren ist also weniger eine Frage von richtigen Plakaten, sondern von direkter persönlicher Ansprache.
Unsere potenziellen Wähler*innen, die ihre soziale Lage eher gut empfinden, gehen häufiger zur Wahl, aber sie sind uns weniger „treu“: Der Anteil an Wähler*innen, die sich zwischen SPD, Grünen und uns entscheiden, ist höher. Und zwar je nach Anlass, schauen sie sich die Wahl und die gesellschaftliche Situation an und entscheiden dann: „dieses Mal wähle ich….“ Die gute Nachricht daran ist: Sie sind nicht ein für alle Mal weg, sondern können das nächste Mal wieder für DIE LINKE gewonnen werden. Bei ihnen ist wichtig, dass konkrete Wahlgründe für DIE LINKE, auch in Abgrenzung zur Konkurrenz von SPD und Grünen, genannt werden. Und auch hier gilt: Bindung entsteht aus Beziehungsarbeit, also aus direkter Ansprache.
Das ausführliche Papier zur Analyse der Wanderungen unserer Wähler*innen findet sich hier.