Emanzipation ist nicht teilbar.
Referat auf der Parteivorstandsitzung am 6. November 2021
- Stephan Hebel
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Erlauben Sie mir am Anfang einige wenige Bemerkungen zu meiner Person. Ich beobachte Ihre Partei seit 1994, als ich für die Frankfurter Rundschau als Korrespondent nach Berlin gegangen bin. Die PDS war damals nicht einfach nur „Kümmererpartei“, das war sie auch. Sie war aber für viele auch eine Brücke in die Bundesrepublik, weil Gregor Gysi – und auf seine Art auch Lothar Bisky – unermüdlich dafür warben, die soziale Frage aus den kapitalistischen Verhältnissen heraus zu stellen, statt in falsche Nostalgie zu verfallen.
So, wie Gysi damals die Nähe zu den sozialen Problemen fand, ohne seinen bürgerlichen, geradezu westlichen Habitus aufzugeben, hätte glatt jemand auf die Idee kommen können, ihn einen „Lifestyle-Linken“ zu nennen. Aber das wäre damals ein ebenso großer Unsinn gewesen wie heute. Ich bin überzeugt, dass die Strategie der PDS seinerzeit entscheidend dazu beigetragen hat, der extremen Rechten im Osten das Wasser abzugraben.
In die fünf Jahre, die ich in Berlin gearbeitet habe, fiel unter anderem das berühmte Magdeburger Modell in Sachsen-Anhalt. In diese Zeit fiel übrigens auch das „Thierse-Papier“, in dem Wolfgang Thierse eine Zusammenarbeit Der SPD mit der PDS im Osten als auf Dauer unausweichlich beschrieb.
Wenn Sie mir die ganz kurze Anekdote noch erlauben: Das eigentlich interne Thierse-Papier war bei mir gelandet, ich habe in der Frankfurter Rundschau darüber geschrieben, und ich erinnere mich an eine Pressekonferenz Anfang 1997, bei der der SPD-Bundesvorsitzende, der diese Debatte scheute wie der Teufel das Weihwasser, geradezu wütend auf die Veröffentlichung reagierte. Dieser SPD-Vorsitzende hieß übrigens Oskar Lafontaine, so ändern sich die Zeiten.
Heute beobachte ich die Dinge meistens von Frankfurt am Main aus. Die Distanz werden Sie meinen Ausführungen vielleicht anmerken, aber wenn Ihnen das eine oder andere aus realpolitischer Sicht unrealistisch erscheint, nehme ich das gern in Kauf.
Drei Gedanken zur Linkspartei
So, ich komme gleich auf die Linkspartei zurück. Aber ich wurde gebeten, auch etwas zur Bundestagswahl insgesamt zu sagen. Dazu drei Punkte:
Erstens:
Das Niveau dieses Wahlkampfs war angesichts multipler Krisen und angesichts der Anforderungen, die sie an Politik stellen, schlicht und einfach unterirdisch.
Ich habe es zwar nie für falsch gehalten, auch über Plagiate in Büchern oder über die Tollpatschigkeiten eines christdemokratischen Kanzlerkandidaten zu reden. Diese Dinge sagen schon etwas aus über die persönliche Eignung eines Menschen für hohe Ämter. Aber dass sie teilweise so sehr im Vordergrund standen, zeigt aus meiner Sicht nur, dass dieses Land sozusagen seine Erregungsfähigkeit dort verloren hat, wo es um wirklich existenzielle Fragen geht.
Weder zum Klima noch zu Gerechtigkeits- und Verteilungsfragen habe ich eine Auseinandersetzung wahrgenommen, die den Notwendigkeiten auch nur halbwegs gerecht geworden wäre. Das gilt erst recht für die Außenpolitik oder für die Frage nach dem Zusammenleben in einer diversen, von Migration mitgeprägten, von mörderischem Rassismus durchzogenen und teils in abgeschottete Milieus fragmentierten Gesellschaft.
Keiner Partei ist es gelungen, und zumindest fast keine hat es versucht, das Bild einer Politik und einer Gesellschaft zu zeichnen, die fähig sein könnte, sich all diesen Problemen offensiv zu stellen und dabei womöglich sogar gerechter und friedlicher, auch stressärmer, gesünder und vielleicht sogar glücklicher zu werden, als sie es jetzt ist.
Die traurigste Pointe stellt für mich dabei die Tatsache dar, dass nur eine Partei eine Geschichte vom angeblich guten Leben erzählt hat, allerdings eine, vor der wir uns fürchten müssen. Das ist die AfD. „Deutschland. Aber normal“, das ist ein leider klug gewählter Slogan für die in jeder Hinsicht geschlossene Gesellschaft, die den sogenannten „Normalen“ im Land versprochen wird. Ein Grund übrigens, aus dem ich es höchst problematisch finde, als Vertreterin oder Vertreter einer linken Partei offensiv mit dem Begriff „normal“ zu hantieren. Aber dazu später mehr.
Zweite Bemerkung zum Wahlkampf: Die demobilisierende Wirkung des Merkel‘schen Versprechens, die Krisen der Welt müssten uns nicht scheren, wenn Mutti nur schön auf die Mechanik der bestehenden Verhältnisse aufpasst, hat auch diesen Wahlkampf geprägt. Dass Scholz den Schönheitswettbewerb der Merkel-Imitatoren gewonnen hat, lag vor allem daran, dass Laschet zu lange glaubte, er würde als natürlicher Erbe durchgehen, wenn er gar nichts tut.
Diese Atmosphäre der Alternativlosigkeit war schon vor Angela Merkel eine der besten Waffen im neoliberalen Siegeszug, ich erinnere nur an Margaret Thatchers TINA-Prinzip, also „There Is No Alternative“, und an den Kotau der europäischen Sozialdemokratie vor diesem Motto. Dieser politischen Lähmung etwas entgegenzusetzen, wäre Aufgabe der politischen Linken gewesen und wäre es noch heute.
Dazu komme ich gleich, vorher noch kurz meine dritte Bemerkung zum Wahlkampf: Sowohl die Unionsparteien als auch SPD und Grüne haben entweder geglaubt oder so getan, als bilde die weitgehende Lähmung des Diskurses über politische Alternativen die eigentlichen Wünsche der gesellschaftlichen Mehrheit ab, nach denen nun wiederum sie, die Parteien, sich zu richten hätten.
Nach meiner Wahrnehmung allerdings haben sie die vermeintliche Alternativlosigkeit der im Kern neoliberalen Politik erst den Leuten eingeredet, leider erfolgreich, um dann mit gespieltem Bedauern oder auch mit ehrlicher Genugtuung festzustellen, die Leute wollten halt keine Alternativen. Selbst wenn es stimmt, dass gerade in Krisenzeiten das Bedürfnis in Teilen der Gesellschaft stark ist, sich vor allzu viel Veränderung zu schützen, dürften Parteien, die sich im weitesten Sinne dem Reformspektrum zurechnen, diese Stimmung eigentlich niemals zum Anlass nehmen, auf die Formulierung alternativer Politik- und Gesellschaftsmodelle zu verzichten. Ihre Aufgabe wäre es, auch gegen eine vermeintlich oder wirklich vorhandene Stimmung um die gesellschaftliche Hegemonie für alternative Konzepte, vielleicht sogar für Visionen, zu werben.
Die Ampelkoalition, die jetzt kommt, wird aus meiner Sicht ein Abbild dieser Hegemonie der Alternativlosigkeit sein. In manchen gesellschaftlichen Fragen deuten sich zwar Fortschritte an. Aber sowohl in der Außenpolitik als auch bei der Daseinsvorsorge und ihrer öffentlichen Finanzierung, also letztlich der Umverteilung von Reichtum, wird sich kaum etwas tun. Und das wird auch dem Klimaschutz in fataler Weise Grenzen setzen. Denn wenn er nicht mit einer gerechten Verteilung von Kosten verbunden ist, wird er politisch scheitern.
Was uns also droht, ist das, was ich eine „Groko in anderen Farben“ nenne: Regieren in der Gefangenschaft einer selbst verantworteten Alternativlosigkeit.
Und damit sind wir bei der Linken. Es liegt eigentlich auf der Hand, dass die beschriebene Konstellation eine riesige Verantwortung, aber auch eine Chance für die einzige Kraft im Bundestag bedeutet, die sich links von der Ampel positioniert. Aber ich glaube, dass Ihre Partei dazu bisher nicht bereit und in der Lage ist. In einem Wahlkampf, der – wie erläutert – einen Schuss Utopie sehr gut hätte gebrauchen können, war davon auch aus Ihren Reihen viel zu wenig zu spüren. Ich habe vielmehr eine Partei gesehen, die sich in einen hochgefährlichen Streit verbissen hatte, den sie seit Jahren nicht wirklich auszutragen vermag.
Bevor ich darauf näher eingehe, zweierlei vorab. Erstens: Ich weiß, dass Journalistinnen und Journalisten sich gern auf innerparteiliche Konflikte stürzen. Aber die Idee, ein halbes Jahr vor der Wahl einen großen Teil der eigenen Leute als „Lifestyle-Linke“ zu diffamieren, hat kein Journalist und keine Journalistin erfunden. Zweitens: Ich gestehe den beiden neuen Vorsitzenden zu, dass sie die Auseinandersetzungen in einer gelingenden Arbeitsteilung zwischen ihren unterschiedlichen Herkünften und politischen Biografien zumindest hätten entschärfen können, dass es dazu aber wegen der Verzögerungen durch Corona zu spät war.
Ein drittes noch: Die Sache mit der Rettungsmission in Afghanistan hat sicher zur Wahlniederlage der Linken beigetragen. Ich weiß, dass es aus der Binnensicht der Partei ein Fortschritt war, sich mehrheitlich zu enthalten. Und ich halte es nach wie vor für zynisch, wenn Union und SPD, die noch im Juni gemeinsam mit der AfD eine schnelle Evakuierung verhindert hatten, nun die Linke beschuldigen, keine Menschenleben retten zu wollen. Und doch wäre es ein Zeichen der Souveränität gewesen, mit Ja zu stimmen. Sie als Linke hätten nur sagen müssen: Wir helfen natürlich, den Brand zu löschen, auch wenn die Feuerwehr ihn selbst gelegt hat.
Dem emanzipatorischen Anspruch nicht gerecht geworden
Aber die Gründe für die Niederlage liegen tiefer. Im Mittelpunkt des Schlamassels steht nach meiner Wahrnehmung die unsägliche Polarisierung zwischen, verkürzt formuliert, Klassen- und Identitätspolitik. Um es deutlich zu sagen: Dem umfassenden emanzipatorischen Anspruch, den eine linke Partei hat oder zumindest haben sollte, wird diese Auseinandersetzung aus meiner Sicht in keiner Weise gerecht.
Es kann an dieser Stelle nicht ausbleiben, den Namen Sahra Wagenknecht zu nennen. Ihr und ihrer Gefolgschaft ist es leider gelungen, der ganzen Partei diese Auseinandersetzung aufzuzwingen. Und ich kann nur staunen, dass dieselbe Person, die aus meiner Sicht die Spaltung entscheidend vorangetrieben hat, jetzt diejenigen für den Wahlausgang verantwortlich macht, die es gewagt haben, ihrer Strategie nicht zu folgen. Sie allerdings hätten längst um eine Entscheidung in diesem Konflikt kämpfen müssen
Um nicht missverstanden zu werden, füge ich zwei Bemerkungen hinzu, die allerdings meine Aussage nicht relativieren, sondern präzisieren sollen.
Erstens: Ich bin überzeugt, dass Sahra Wagenknecht ehrlich glaubt, einen Großteil der potenziellen Wählerschaft nur abholen zu können, wie das immer so unschön heißt, wenn man sie nicht mit allzu viel Gender und Klima und Minderheitenschutz verschreckt. Warum ich das für einen fundamentalen Irrtum halte, sage ich gleich. Aber rechts ist dieser Gedanke zunächst einmal nicht.
Zweite Bemerkung: Die Frage, mit welchen Schwerpunkten und auch in welcher Sprache die Linkspartei mehr Menschen überzeugen kann als bisher, ist nicht schon deshalb unberechtigt, weil Wagenknecht und andere sie aus meiner Sicht falsch beantworten. Dazu muss sich Ihre Partei nach meiner Überzeugung tatsächlich Gedanken machen.
Meine Hauptthese lautet, in einem kurzen Motto zusammengefasst: Emanzipation ist nicht teilbar. Es ist einer linken Partei nicht würdig, wenn in ihren eigenen Reihen die „normalen“ Leute gegen Minderheiten ausgespielt werden. Gerade in dieser Woche hat Sahra Wagenknecht wieder gesagt, ich zitiere, „dass wir uns mit den Problemen beschäftigen müssen, die normale Arbeitnehmer, Rentner und kleine Selbständige belasten, und nicht mit Themen, die nur kleine Minderheiten interessieren“.
Ich halte das Hantieren mit dem angeblich „Normalen“ für absolut unangebracht und für höchst brisant. Sicher, ich sage es noch einmal, steckt bei Sahra Wagenknecht nicht die gleiche rassistisch ausgrenzende Ideologie dahinter wie bei der AfD. Aber wer von Normalität spricht, impliziert immer etwas Ausschließendes, ob gewollt oder ungewollt. Und zwar erst recht dann, wenn im gleichen Satz die „kleinen Minderheiten“, also offenbar die „nicht Normalen“, praktisch aus dem Solidaritätsverlangen ausgeschlossen werden.
Es ist gelegentlich vermutet worden, dass diese Kampagne der Idee eines linken Populismus folge, wie sie vor allem die belgische Politikwissenschaftlerin Chantal Mouffe formuliert hat. Ich bin kein Anhänger von Chantal Mouffe, aber sie hier als Kronzeugin aufzurufen, wäre dann doch zu viel der Ehre für das Wagenknecht-Lager. Ich zitiere nur eine kurze Passage aus einem Interview der taz mit Chantal Mouffe: „Ein linker Populismus muss eine Vielzahl heterogener demokratischer Forderungen, antirassistische, ökologische etcetera, bündeln.“ Das steht im direkten Widerspruch zu der schlechten Idee, zwischen unterschiedlichen Aspekten von Emanzipation eine Art Rangliste zu erstellen.
Ich finde, Emanzipation ist schon deshalb nicht teilbar, weil sich die unterschiedlichen Formen von Benachteiligung und Diskriminierung in einer diversen Gesellschaft vielfach überschneiden. Nach der Logik der Normalen und der anderen weiß zumindest ich nicht, wo ich den syrischen Paketfahrer einordnen soll, der vielleicht zu Hause studiert hat. Oder zu welcher Gruppe ich die Supermarkt-Kassiererin zählen soll, die die LGBTQ-Bewegung unterstützt. Oder die solo-selbständige Designerin, die das Glück hat, zu günstiger Miete in Friedrichshain oder im Frankfurter Nordend zu wohnen, bis die alte Vermieterin stirbt und die Erben das Haus meistbietend verkaufen.
Da ich gerade die In-Viertel erwähnt habe: Das, entschuldigen Sie den Ausdruck, Dümmste an dieser Debatte ist der Vorwurf, die Lifestyle-Linken säßen in ihren schicken Altbauwohnungen und hätten den Kontakt zur Wirklichkeit verloren. Diejenigen, die diesen Vorwurf erheben, gehören in der Regel genau der gleichen privilegierten Schicht an, über die sie sich beschweren. Egal, ob sie im renovierten Altbau in einer Großstadt leben oder in einem saarländischen Einfamilienhaus.
Ich weiß natürlich, dass es auch die klassische Arbeitnehmerschaft mit Sorge um den Job, die Rente, die Kinder und das Häuschen noch gibt. Und es stimmt, dass viele Menschen sich zumindest irritiert fühlen von protestierenden Minderheiten und Gendersternchen. Ich stimme deshalb ausdrücklich zu, dass die Linke auch auf diese Menschen zugehen muss. Allerdings halte ich es da mit dem Literaturwissenschaftler Jürgen Link, der mal sinngemäß geschrieben hat: Die Leute abzuholen, das ist schon richtig. Aber wer sagt, dass man sie wieder dorthin zurückbringen muss, wo sie hergekommen sind? Man könnte ja auch auf die Idee kommen, die Leute von etwas zu überzeugen.
DIE LINKE muss ihre Konflitkte austragen
Damit komme ich langsam zu meinem Fazit: Ich teile die Ansicht der Parteiführung, dass die Linke jetzt schnellstens ihre inneren Konflikte austragen und zumindest in den großen Linien einen Konsens finden muss. Für diesen Weg erlaube ich mir zum Schluss sechs Hinweise von außen.
Erstens: Die beschriebene Polarisierung wird sich nicht mit dem Hinweis überdecken lassen, die Linke sei halt eine pluralistische Partei. Das ist sie ganz sicher. Aber wenn sie auch eine linke Partei bleiben will, muss aus meiner Sicht die Begrenzung von Solidarität und Emanzipation auf die angeblich „Normalen“ ein Ende haben.
Zweitens: Auch diejenigen, die das Glück im politischen Hufeisen vermuten, sollten nicht dem Irrtum erliegen, auf diesem Weg in die Erfolgsspur zurückzukehren. Wenn Dietmar Bartsch und Bodo Ramelow meinen, Sahra Wagenknecht solle wieder eine wichtigere Rolle spielen, machen sie aus der Linken allenfalls eine ostdeutsche Regionalpartei für gesellschaftlich Konservative.
Drittens: Unter den Bedingungen einer Ampelkoalition müssen und können Sie als Partei die Anwältin alternativer Politik sein. Sie müssen in der Klimapolitik unermüdlich die soziale Frage stellen, aber ohne radikalen Klimaschutz infrage zu stellen. Sie können diejenigen sein, die einen starken Sozialstaat anmahnen und skizzieren – aber nicht als patriarchalen Fürsorgestaat, sondern als Ermöglicher individueller Freiheit für alle, gerade auch für die Benachteiligten und Diskriminierten jeder Couleur. Sie können gefährlichen Kalte-Kriegs-Routinen die Idee einer neuen Entspannungspolitik entgegenhalten, ohne die Verhältnisse in einem Land wie Russland zu beschönigen.
Viertens: Wenn Sie damit Erfolg haben wollen, müssen Sie nach meiner Überzeugung Ihre Schwerpunkte überprüfen. Womöglich in der Programmatik, auf jeden Fall in der Kommunikation. Sie sollten, denke ich, das Thema der individuellen Freiheit von links besetzen.
Was meine ich damit? Kurz zusammengefasst, folgendes: Linke Rhetorik kommt oft furchtbar strukturell daher. Sie teilt, vollkommen zu recht, die Gesellschaft in Privilegierte und weniger Privilegierte ein. Aber dabei drohen die Einzelnen oft hinter der Gruppe, in der sie einsortiert werden, zu verschwinden. Ich fände es sehr spannend, linke Politik einmal stärker vom Gedanken der persönlichen Selbstverwirklichung her zu denken und zu formulieren. Der Wunsch nach individueller Freiheit ist keineswegs selbst etwas Neoliberales, er wird vom Neoliberalismus besetzt und missbraucht. Ich finde, die Linke sollte sich den Gedanken der Freiheit zurückerobern.
Die Solo-Selbständige, der VW-Arbeiter, der Paketbote, das sind alles Leute, die ihr Leben gestalten wollen. Und daran, nicht an der noch so berechtigten Analyse des Niedriglohnsektors oder des Rentensystems, müsste linke Überzeugungsarbeit ansetzen. Sie müsste ihre Ziele und Visionen aus konkreten Lebenssituationen heraus formulieren, um daran dann mit der Kritik an Strukturen anzuknüpfen, und nicht umgekehrt.
Sechstens: Bei all dem würde es sehr helfen, sowohl utopischer als auch realistischer zu werden. Das klingt widersprüchlich, meint aber etwas relativ Einfaches: Eine Vorstellung, wie die bessere Gesellschaft der Zukunft in ihren Grundzügen aussehen könnte, schärft sicher den Blick auf die Gegenwart. Mehr Utopie wagen und auch damit ankämpfen gegen die Hegemonie der Alternativlosigkeit, das fände ich gut. Andererseits spricht nichts dagegen, auch kleine Schritte zu gehen, wenn die Richtung stimmt. Utopie ist nach meiner Überzeugung erst dann sinnvoll, wenn sie von dem stetigen Versuch begleitet ist, sie während des Kampfes um eine bessere Welt in Teilen schon zu leben. Viele gesellschaftliche Bewegungen tun das längst, und auf deren Stimmen sollten Sie noch besser hören.
Von Hannah Arendt stammt das schöne Wort von der „public happiness“. Diese Art von Glück entsteht gerade nicht in der Konkurrenz der Selbstoptimierer oder beim Rückzug ins mühsam verteidigte private Glück. Public Happiness entsteht vielmehr im politischen, im gemeinsamen Handeln.
Mein Appell zum Schluss lautet also: Zeigen Sie den Leuten, dass es schon heute Freude machen kann, die Welt zu verändern, auch wenn längst nicht alle Ziele morgen erreichbar erscheinen. Das sollte eine moderne Linke – neben dem Motto „Emanzipation ist unteilbar“ – meiner Meinung nach zu einem ihrer wichtigsten Leitmotive machen. Und sie sollte die Freude am Kampf um Veränderung nicht nur versprechen, sondern auch leben. Mit der schlechten Laune, die wir aus manchen Veranstaltungen im linken Spektrum kennen, kommen Sie ganz sicher nicht aus der Krise.
Stephan Hebel ist ein deutscher Journalist, Redakteur und Autor der Frankfurter Rundschau und Publizist. Bei dem Text handelt es sich um die schriftliche Fassung seines Referats zum Ausgang der Bundestagswahl, das er auf der Sitzung des Parteivorstandes am 6. November 2021 hielt.
Neben Stephan Hebel hielt auch Prof. Klaus Dörre ein Referat auf der Parteivorstandssitzung am 6. November. Sein Referat "Schicksalswahl: Alles muss anders werden, ändern soll sich wenig!" dokumentieren wir hier.