„Heute trauern wir, morgen rächen wir uns“
- Charlotte Tinawi
Inmitten eines Corona-bedingten mehrtätigen Lockdown ereignete sich am frühen Dienstagabend des 4. August am Beiruter Hafen nach einem Ausbruch eines Feuers und einer kleineren Explosion in einer Lagerhalle eine massive Explosion und Detonation, vergleichbar mit Stufe drei bis vier eines Erdbebens. Die katastrophalen Folgen sind mindestens 158 Tote und ca. 6.000 Verletzte. Bis zu 300.000 Menschen wurden obdachlos.
Nicht nur der Beiruter Hafen liegt in Schutt und Asche, große Teile der Stadt sind mehr oder weniger zerstört oder haben Schaden genommen, kaum ein Haushalt war nicht direkt oder indirekt betroffen. Die Erschütterung war abgestuft in der ganzen Stadt und im größeren Umkreis spürbar, auch in nicht unmittelbarer Nähe des Hafens wurden Häuser und Wohnungen durch die Detonation beschädigt und Menschen verletzt.
Die Ressourcen für die unmittelbar begonnenen Aufräumarbeiten und den Wiederaufbau kamen zunächst größtenteils aus zivilgesellschaftlicher Selbstorganisation, danach traf internationale Hilfe ein. Die erste Reaktion des Staates war derweil die Verhängung eines zweiwöchigen Ausnahmezustands mit Militärpräsenz auf den Straßen Beiruts.
Bereits am Tag nach der Katastrophe konnte das politische Vakuum durch den Präsidenten der ehemaligen Kolonialmacht Frankreich, Emmanuel Macron, genutzt werden: Ihm verhalf die Lage der verzweifelten Libanes*innen auf den Straßen Beiruts dazu, sich politischen Leverage zu verschaffen und im Kontrast zu den passiven korrupten libanesischen Eliten als verantwortungsvoller Retter in der Not zu inszenieren. Vor Ort versprach er, französische Hilfen nicht durch korrumpierte Kanäle des libanesischen Regimes laufen zu lassen und twitterte im Anschluss an seinen Besuch „Ich liebe dich, Libanon“.
Die Ursache der großen Explosion war nach derzeitigem Stand die nicht sachgerechte Lagerung von großen Mengen des hochexplosiven Materials Ammoniumnitrat am Hafen – jahrelang ohne jegliche Sicherheitsvorkehrungen und trotz nachgewiesener Warnungen. Das immense Risikopotential dieser Lagerung muss in Regierungskreisen von mindestens drei Legislaturperioden bekannt gewesen sein, an den entscheidenden Stellen hat sich aber offenbar niemand dafür verantwortlich gefühlt.
Der Grund hierfür sowie der Auslöser des ursächlichen Feuers, für dessen Löschen bereits Feuerwehrkräfte in den unmittelbar darauf folgenden Tod durch die Explosion auf dem Weg waren, ist noch nicht abschließend geklärt. Die Einleitung von internationalen Ermittlungen wurde bereits gefordert, allerdings ist strittig, wie vielversprechend diese wären, denn es gibt keinerlei Anlass, dem libanesischen Establishment in Bezug auf Transparenz und Offenlegung von Informationen zu vertrauen. So ließ Präsident Michel Aoun auch bereits verlauten, dass er wenig Interesse an solchen habe, die Verantwortlichen sollten lieber schnell gefunden werden.
„Wir wollen Gerechtigkeit“
Die Katastrophe traf das Land im Moment eines durch Corona bereits völlig überlasteten Gesundheitssystems, einer mehr als mangelhaften öffentlichen Stromversorgung, einer galoppierenden Inflation mit astronomischen Lebenshaltungskosten gepaart mit einem bankrotten und verschuldeten Staat und einer druckunempfindlichen Regierung ohne jeglichen Reformwillen.
Der durch all diese Faktoren bestimmte Alltag wurde bereits seit Monaten als Zumutung empfunden, entsprechend war die gesellschaftliche Stimmung.
Die wütenden Proteste gegen die Regierung in den Tagen seit der Explosion sind somit wenig überraschend, es wurden Aktionen zivilen Ungehorsams durchgeführt, Ministerien und Banken gestürmt und besetzt. Die Reaktionen der Sicherheitskräfte waren nicht zum ersten Mal der massive Einsatz von Tränengas und Gewalt sowohl gegen Demonstrierende als auch Journalist*innen.
Am Montag, den 10. August, trat dann die Regierung zurück – zum zweiten Mal innerhalb eines Jahres in Folge von breitem zivilgesellschaftlichen Protest.
Die Menschen auf der Straße haben unmissverständlich kommuniziert, dass sie das Ereignis mitnichten als Unfall, sondern als Verbrechen des Staates an der eigenen Bevölkerung sehen. Zu den Protesten wurde mit Slogans wie „heute trauern wir, morgen rächen wir uns“ und „wir wollen Gerechtigkeit“ mobilisiert, was durchaus als Bezug auf die gesamte jüngere Geschichte des Libanons interpretiert werden kann.
Im Lichte der Wut und Empörung vieler Menschen im Libanon scheinen die konkreten Details und Hintergründe des Hergangs der Ereignisse am Beiruter Hafen derzeit zweitrangig zu sein. Unabhängig von verschiedenen Erklärungshypothesen und Spekulationen ist unstrittig, dass diese Explosion eine Qualität hatte, die selbst angesichts der Erfahrungen aus Bürgerkrieg oder israelischen Angriffen aus der Geschichte des Libanons beispiellos ist und diese Katastrophe auf dem Mist der verantwortungslosen Regierungen der letzten Jahre gewachsen ist.
Das Ereignis trifft auf eine bereits am Boden liegende Gesellschaft mit Jahre und Jahrzehnte alten Kriegstraumata, die sich den desaströsen Folgen von Korruption, Verantwortungslosigkeit und verblüffender Kaltschnäuzigkeit politischer Eliten schutzlos ausgeliefert sieht.
In der Kumulation von Krisen und extremen Entwicklungen des Libanons vor allem im Laufe des letzten Jahres sind die Ereignisse vom 4. August nicht lediglich eine weitere Katastrophe von vielen. Es ist oft die Rede davon, dass die Stadt Beirut, die zweifellos viel erlebt hat, nie wieder dieselbe sein wird. Der Tag hat eine gesellschaftliche Re-traumatisierung in Gang gesetzt, von der auch die weltweite libanesische Diaspora betroffen ist.
Der bereits bestehende und durch die massive Wirtschaftskrise wieder angelaufene Brain-Drain wird nun vermutlich erneut angeschoben: wer die Mittel und/oder eine zweite außer der libanesischen Staatsangehörigkeit hat, wird versuchen, das Land, dessen Regierungs(nicht)handeln Gefahr für Leib und Leben aller im Land lebenden Menschen darstellt, zu verlassen.
Die Wut der Bevölkerung gegen mafiös agierende Politiker ist Ausdruck einer kaum abzusehenden aber so nötigen grundlegenden Veränderung im Land. Den Grundstein dafür sahen viele Menschen in den Protesten im Oktober 2019, deren Dynamik nach zwischenzeitlicher Erschöpfung derzeit wieder deutlich spürbar ist.
Auch vom Premierminister Hassan Diab in Aussicht gestellte Neuwahlen werden die politische Gemengelage nicht entscheidend verändern – zumindest solange es keinen parlamentarischen Arm der zivilgesellschaftlichen Bewegung gibt, die rund um die Proteste in der sogenannten Oktober-Revolution entstanden ist. Zu hoffen bleibt deshalb, dass sich perspektivisch eine emanzipatorische Alternative entwickelt, die für die vielen Menschen im Libanon, die das ganze politische System radikal in Frage stellen, ein glaubhaftes und wählbares Angebot wäre.