Die Erneuerung der Linken entscheidet über ihre Zukunft.
- Judith Dellheim
Grundsätzliches mit Schlussfolgerungen
Bereits vor der Wahl zum Europäischen Parlament hatte die Die Linke ihre bundespolitische Bedeutung eingebüßt. Nur so ist ihr Wahlergebnis erklärbar. Das dramatisch schwache Resultat der Bundestagswahl 2021 war bereits ein eindringliches Warnsymbol. Eine offensive Antwort der Partei blieb aus – Ergebnis einer langen Problemakkumulation. Es kann daher nicht davon ausgegangen werden, dass die angestauten Probleme kurzfristig lösbar sind oder wirksam gelindert werden könnten. Auch besteht die Möglichkeit, dass sie überhaupt nicht gelöst werden, was politisch verheerend wäre. Dies zu verhindern, ist die entscheidende Herausforderung und dafür muss die Partei zunächst für ihre Mitglieder und bisherigen Wähler:innen attraktiv bleiben bzw. von Neuem attraktiver werden.
Auch Linke-Wähler:innen wollen „keine Stimmen verlieren“, erst recht nicht angesichts des Einflusses der AfD. Es geht daher insbesondere um die Rückgewinnung von politischer Glaubwürdigkeit und zugleich von gesellschaftlicher Verankerung. Dafür müssen nicht zuletzt konkrete kurz- und mittelfristige Ziele formuliert werden, an denen sich die Partei-Akteure orientieren, ihre Ressourcen mobilisieren und gebündelt einsetzen, um als gesellschafts- und kapitalismuskritische sozialistische Kraft politikwirksamer zu werden.
Dieser Beitrag will eine entsprechende Debatte unterstützen und fokussiert insbesondere auf den gesellschaftlichen Kontext, in dem die Probleme der Linken gewachsen sind.
Ausgangsüberlegungen
Werden die Wahlergebnisse nach Akteuren gruppiert, die nicht dem Mainstream zuzurechnen sind, dann ergeben sich um die 20 % für die AfD und Rechtere, 6,2 % für BSW und um die 5 % für Die Linke und andere Linke. Dies zeigt auch, dass das Verhältnis der Linken zu den anderen Linkskräften neu zu analysieren und zu klären ist. Im Wahlkampf war eine sozialistische Alternative zur herrschenden Politik bzw. zum Mainstream kaum wahrnehmbar.
Als Kriterien für eine solche Alternative werden hier gesehen:
- Ausgehend von den aktuell größten gesellschaftlichen Herausforderungen zum einen wirksame, sofort und kurz- und mittelfristig realisierbare konkrete Maßnahmen fordern und zum anderen, die Ursachen der bestehenden Probleme aufzeigen; Zusammenhänge zwischen den beiden Aspekten demonstrieren;
- Konsequente Auseinandersetzung mit jeglicher Verletzung der Menschen- und Bürgerrechte, mit der Diskriminierung von Menschen nach ihrer ethnischen und sozialen Herkunft, ihrem Geschlecht und ihrer sexuellen Selbstbestimmung, ihrer Stellung im gesellschaftlichen Arbeitsprozess, ihrem Geburtsort und Lebensmittelpunkt, ihrer kulturellen Verankerung, körperlichen und mentalen Verfasstheit, ihrem Alter[1];
- Förderung von Demokratie und emanzipativ-solidarischen Einstellungen, der Selbstorganisation und Organisation emanzipativ-solidarscher Akteure, insbesondere sozialistisch orientierter Kräfte;
- Organisation von Solidarität unter den Lohnabhängigen über betriebliche, professionelle und sektorale Schranken hinweg, nicht zuletzt in den Dienstleistungsbereichen; Entwicklung der Zusammenarbeit zwischen Gewerkschaften, zivilgesellschaftlichen Partner:innen und Sozialverbänden – vor allem beim Thema Armut und Prekarität im umfassenden Sinne – mit Mieter:innenzusammenschlüssen, Klima- und Ökologiebewegungen; Solidarität soll vor allem jene stärken, die am dringlichsten auf Beistand angewiesen sind, aber auch jene, deren aktuelle Kämpfe von politisch übergreifender und internationaler Relevanz sind.
All das bedeutet revolutionäre Realpolitik und damit auch praktizierter entscheidender Unterschied zum Bündnis Sahra Wagenknecht. Die genannten Kriterien waren aber viel zu lange nicht die Politik der Linken bestimmend, obwohl sie vom Programm der Partei direkt abgeleitet sind. Dass das Parteiprogramm und seine ständige kritische Debatte nur kaum das Parteileben prägten, ist auch in dem sehr interessanten und lesenswerten Text von Thomas Goes nicht als Problem reflektiert. Es ist bedenklich, dass nunmehr eine Erneuerung des Programms gefordert wird, das nach seiner Annahme in der Partei weitgehend marginalisiert blieb. Ähnlich ist es mit der Forderung, die Verbrechen des Stalinismus „aufzuarbeiten“, ohne dass kritisch geprüft wurde, was dazu geleistet wurde und nun getan werden sollte.
Neben der „Ungleichzeitigkeit“ in der Gesellschaft gibt es auch eine spezifische Ungleichzeitigkeit in der Partei. (Mit dem Begriff und Konzept der „Ungleichzeitigkeit“ wollte Ernst Bloch verstehen helfen, wie es dazu kommen konnte, dass so viele Menschen dem Faschismus zur Herrschaft verhalfen. Sie wollten angesichts der sozialen und politischen Wirren endlich „geordnete Verhältnisse“, Klarheit und Einfachheit.) Die in der LINKEN auszumachende Ungleichzeitigkeit bezieht sich auf eine zu begrüßende Vielfalt von Sichten, die die Mitglieder mit ihren Biografien, Erfahrungen und Lebenswelten mitbringen. Aber deren kollektive Reflexion und Veränderung in der Arbeit mit dem Parteiprogramm fanden nur viel zu selten statt. Sie sollten aber sowohl mit den praktischen Parteiaktivitäten im gesellschaftlichen Alltag als auch mit ständiger kollektiver Analyse der politischen Handlungsbedingungen der Partei und ihrer Mitglieder einhergehen.
Zur Genesis der politischen Handlungsbedingungen
Zur Genesis dieser Handlungsbedingungen gehören die unterschiedlichen in den 1960er bis Anfang der 1970er Jahre unternommenen vergeblichen Versuche, die sozialistische Bewegung zu erneuern und die neoliberale Entwicklung. Da geht es auch und insbesondere um die Frage, welche großen Chancen für einen politischen Richtungswechsel hin zu demokratischer, sozial und ökologisch nachhaltiger Entwicklung seit 1990 bestanden und warum die Linken sie nicht zu nutzen vermochten. Diese Chancen bestanden im Zusammenbruch des sowjetischen Gesellschafts-, Wirtschafts- und Industriemodells, das weder für die dort Lebenden noch international attraktiv und konkurrenzfähig war und dem „Erdgipfel“ zu Umwelt und Entwicklung 1992 Rio de Janeiro (1), in der globalen Finanzkrise 2008/Folgejahre (2) und in der globalen Covid19-Pandemie 2020-22 (3). Damals waren große Teile der Bevölkerungen in Europa der Ansicht, dass die Zeit für eine Abkehr von der verheerenden vorherrschenden Entwicklungsrichtung überreif sei und Wettrüsten, „Militäreinsätze“, „Finanzmarktkapitalismus“/Kommerzialisierung des gesellschaftlichen Lebens und die Zerstörung der natürlichen Lebensbedingungen der Menschen überwunden werden sollten.
Weil es die Linken in Europa nicht vermochten, ausgehend von diesen Stimmungen Bewegungen für einen erforderlichen Politikwechsel zu befördern bzw. zu initiieren, sind die gesellschaftlichen und globalen Probleme weiter anwachsen, eskaliert Gewalt gegen die Menschen und die Natur. Die stattfindenden Kriege, insbesondere der „Ukraine-Krieg“, müssen nicht erst zuletzt als Ausdruck der Schwäche der Linken verstanden, analysiert und diskutiert werden. Dies hat zu erfolgen in einer komplizierten gesellschaftlichen Umgebung – in der Auseinandersetzung mit Geschichtslosigkeit und Dekontextualisierung von Entwicklungen und Ereignissen, mit der Erfindung und Pflege von Feindbildern und entsprechenden prinzipiellen Schuldzuweisungen, mit einem (primitiven) „Entweder – Oder“, mit egoistischer Identitätspolitik, Fatalismus, einer Toleranz bzw. Bekräftigung des Prinzips westlicher Überlegenheit, des Geredes von westlichen Werten und „Wertehierarchie“ bei gleichzeitig praktizierten Doppelstandards, mit der Konstruktion von Demokratie-Autokratie-Gegensätzen. Diese Merkmale aber prägen den politischen Mainstream, befördern militärische Aufrüstung wie die Erlangung von „Kriegstüchtigkeit“ – in den USA wird Krieg wieder als ein Mittel der Politik gesehen, insbesondere Krieg gegen das entfernte China.
Wer in der heutigen Bundesrepublik nicht mehr oder weniger aggressiver Ausgrenzungspolitik und Verteufelung als Putin-Freund, Ukraine-Feind und Verteidiger bzw. Partner von Autoritarismus ausgesetzt sein will, muss aber gerade hier mittun[2].
Mit „Doxa“ beschrieb Pierre Bourdieu den Zustand, da der politische Mainstream seine Wirklichkeitsannahmen nicht hinterfragt und scheinbare Selbstverständlichkeiten von jeglicher Kritik ausnimmt. Da hat man es als Linke-Abgeordnete/r und Amtsinhaber/in zusätzlich schwer, ihre/seine verfassungsgemäßen Aufgaben zu erfüllen; erst recht, wenn man eine DDR-, PDS- und vielleicht auch noch SED-Vergangenheit hat oder mit solchen Leuten in einer Partei ist. Denn zur gegenwärtigen Doxa gehören die mangelnde Demokratieprägung der Ostdeutschen, die rückständige Verbundenheit mit einstigen Brudervölkern, insbesondere mit dem russländischen, und die angeblich noch immer ausstehende „Aufarbeitung der DDR- und SED-Geschichte“ der Linken. Eine (selbstverantwortete) Unkenntnis der eigenen Parteigeschichte und von Parteidokumenten der Linken macht ein souveränes öffentliches Auftreten und Handeln – gemäß der oben genannten Kriterien – von Repräsentant:innen und Kandidat:innen der Partei zusätzlich schwer und entfremdet sie von engagierten und geschichtskundigen Parteimitgliedern.
Eine Erneuerung der Linken entscheidet über ihre Zukunft. Und dafür wären jetzt erforderlich:
- Die Klarstellung der LINKE-Prioritäten Frieden – Ablehnung der herrschenden Militarisierungspolitik, soziale Sicherheit und Gerechtigkeit, solidarisches Miteinander in der offensiven Auseinandersetzung mit den Klima-, Umwelt- und Ressourcenkrisen; da wird es selbstverständlich unentwegt um die Umverteilung von Einkommen, Vermögen, Ressourcen und Kompetenzen – um Demokratisierung gehen. Daher sollte die Partei in den Bundestagswahlkampf mit ihrer Idee der Demokratisierung und Stärkung des Öffentlichen und der öffentlichen Daseinsvorsorge eintreten. Die Klarstellung und das Ringen um den Wiedereinzug in den Deutschen Bundestag werden nur erfolgreich, wird die Partei hier und heute (wieder) stärker im Alltag erlebbar und baut sie dabei eigene Medien aus und auf;
- davon ausgehend eine offensive Kritik der Bundesregierung und die Forderung nach Aktivitäten zur Deeskalation in den internationalen Beziehungen, intensives Drängen auf deutsche Initiativen zur Beendigung des „Ukraine-Krieges“ und der anderen Kriege, zur Bekämpfung von Armut, sozialer Prekarität und Unsicherheit, zur Ermöglichung sozial und ökologisch nachhaltiger Entwicklung, zur Erfüllung der deutschen Menschenrechts-, Klima- und Nachhaltigkeitsverpflichtungen im Rahmen der UN-Vereinbarungen;
- Vorbereitung auf den 80. Jahrestag der Befreiung vom Hitlerfaschismus unter besonderer Würdigung der Rolle der UdSSR und der Klärung, dass 1. die historische Schuld gegenüber den Opfern Deutschlands nicht durch eine wahrgenommene transatlantische Bündnispflicht abgegolten werden kann bzw. darf; dass 2. damit keinerlei Relativierung der Verurteilung Russlands Krieg gegen die Ukraine verbunden ist;
- Beginn einer gründlichen Analyse der Wahlkämpfe 2024 ausgehend von der noch immer ausstehendenden Kritik des Europawahlkampfes 2019 und vor allem des Bundestagswahlkampfes 2021; Analyse der Verfasstheit der Partei in breiter demokratischer Zusammenarbeit mit der Parteibasis; Beginn der „Aufarbeitung“ der Geschichte der Partei DIE LINKE;
- Beginn bzw. Fortsetzung einer Debatte zum Statut, die konkrete Schlussfolgerungen zieht aus der „Aufarbeitung“ der Geschichte der Partei DIE LINKE. mit ihren Fehlentwicklungen und entstandenen Problemen und die verhindert, dass Zusammenschlüsse die demokratische innerparteiliche Willensbildung untergraben.
Die ersten beiden Punkte wären sofort in den für die Partei so außerordentlich wichtigen Landtagswahlkämpfen umzusetzen, die drei anschließenden Punkte wären als bevorstehende Herausforderungen glaubhaft zu kommunizieren. Das wäre sozialistische Profilierung, nicht zuletzt gegenüber dem BSW, die ggf. auch punktuelle Kooperation ermöglicht.
Ein Lackmustest für Die Linke sind ihre Friedensaktivitäten bis hin zur zentralen Friedensdemonstration am 3. Oktober in Berlin, wo die Mitglieder der Partei erkennbar sein sollen. Selbstverständlich gehört das Engagement hierfür mit den ständig erforderlichen antifaschistischen und antirassistischen Aktivitäten, mit im Alltag erfahrbarer Solidarität mit Geflüchteten und anderen Bedürftigen zusammen.
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Diese Herausforderungen sind die Erlangung bzw. Verteidigung von Frieden, sozialer Sicherheit und Gerechtigkeit, solidarischem Miteinander in der offensiven Auseinandersetzung mit den Klima-, Umwelt- und Ressourcenkrisen.
[1] Siehe auch https://www.links-bewegt.de/de/article/878.gelingt-die-erneuerung-als-demokratische-sozialistische-partei.html
[2] Siehe dazu Richard David Precht. Das Jahrhundert der Toleranz. Plädoyer für eine wertegeleitete Außenpolitik, 2024, ISBN 978-3-442-31607-6.