Tag der Befreiung
Die Parteivorsitzende Janine Wissler, Bundesgeschäftsführer Tobias Bank, die Berliner Landesvorsitzende Katina Schubert und der Fraktionsvorsitzende der Fraktion der LINKEN im Abgeordnetenhaus zu Berlin, Carsten Schatz, gedenken der Befreier und legen an der Skulptur "Mutter Heimat", einer Frauenstatue, die um die gefallenen Söhne trauert, einen Kranz nieder.
Mit Blick auf den 80. Jahrestag der Befreiung in zwei Jahren fordert DIE LINKE, den 8. Mai europaweit zu einem Gedenk- und Feiertag zu erklären und dies den Regierungen der EU-Mitgliedsstaaten aufzutragen.
Dokumentiert:
Rede von Wolfram Adolphi zum 8. Mai 2023 am Mahnmal in Treptow
Am 8. Mai 1945 – heute vor 78 Jahren – kapitulierte die deutsche Wehrmacht in Berlin-Karlshorst vor den Mächten der Antihitlerkoalition. Damit endete der Zweite Weltkrieg in Europa. Vier Monate später – am 2. September 1945 – kapitulierte auch Japan, der asiatische Achsenpartner Deutschlands. Damit war der Zweite Weltkrieg beendet.
„Der 8. Mai“, sagte im Jahre 1985 der seinerzeitige Bundespräsident Richard von Weizsäcker, „war ein Tag der Befreiung. Er hat uns alle befreit von dem menschenverachtenden System der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft.“ Und weiter: „Wir dürfen den 8. Mai 1945 nicht vom 30. Januar 1933 trennen.“
Die Weizsäcker-Rede verweist darauf, dass die Deutung des 8. Mai in Deutschland immer eine umkämpfte war. Von einem „Tag der Befreiung“ zu sprechen, wie es Weizsäcker 1985 tat, war für die damalige Bundesrepublik Deutschland eine Sensation. In der DDR hingegen war es Normalität von Anfang an. Der 8. Mai war der Tag der Befreiung vom Faschismus; Berlin-Karlshorst – das Hauptquartier der sowjetischen Roten Armee, die die Hauptlast des Krieges gegen den deutschen Faschismus getragen und auch den entscheidenden Schlag zur Befreiung Berlins geführt hatte – der Ort, an dem die Kapitulationsurkunde, die bereits am 7. Mai im französischen Reims unterzeichnet worden war, endgültig ratifiziert wurde. Das sowjetische Ehrenmal im Treptower Park wurde für Generationen von Bürgerinnen und Bürgern der DDR zu einem besonders wichtigen Platz des Gedenkens und Erinnerns – und auch: der Freundschaft mit der Sowjetunion.
Mit der Sowjetunion. Selbstverständlich. Denn es ging um dieses Land und um dessen Armee: die Rote, die sowjetische. Hitler und die Seinen hatten, als sie am 22. Juni 1941 mit 153 Divisionen – das waren drei Millionen Soldaten! – die Sowjetunion überfielen, vom „Russlandfeldzug“ gesprochen, und auch heute taucht dieser Begriff immer wieder auf. Aber es war dies kein „Russlandfeldzug“, sondern – wie uns das Online-Projekt „Lebendiges Museum Online“ (LeMO) des Deutschen Historischen Museums eindringlich in Erinnerung ruft – ein „vom arischen Rassenwahn getriebener ideologischer Weltanschauungs- und rassebiologischer Vernichtungskrieg“. Er richtete sich gegen alle in der Sowjetunion lebenden Völker: gegen Russinnen und Russen, Ukrainerinnen und Ukrainer, Weißrussinnen und Weißrussen, Estinnen und Esten, Lettinnen und Letten, Litauerinnen und Litauer, Moldawierinnen und Moldawier, Georgierinnen und Georgier, Armenierinnen und Armenier, Aserbaidshanerinnen und Aserbaidshaner, Kasachinnen und Kasachen, Usbekinnen und Usbeken, Tadshikinnen und Tadshiken, Kirgisinnen und Kirgisen, Turkmeninnen und Turkmenen und viele weitere in den 15 Republiken lebenden Völkerschaften und ebenfalls – nie darf auch dieser Zusammenhang vergessen werden – gegen die in der Sowjetunion lebenden Jüdinnen und Juden. Drei Millionen von ihnen wurden im Holocaust hingemordet – drei der sechs Millionen, die diesem Völkermord insgesamt zum Opfer fielen.
In der sowjetischen Armee, die, bevor sie am 16. April 1945 an der Oder zum entscheidenden Schlag auf Berlin ansetzte, beginnend mit ihrem Sieg in der Schlacht von Stalingrad im Februar 1943 das gesamte von der Wehrmacht besetzte Territorium der Sowjetunion und aller osteuropäischen Länder von der faschistischen Terrorherrschaft befreit hatte, kämpften Seite an Seite Menschen all dieser Völker, und ihnen allen gemeinsam gilt hier, im Treptower Park, unser ehrendes Gedenken.
Dieses Gedenken hat selbstverständlich immer ein weiteres eingeschlossen und wird es auch in Zukunft tun: das Gedenken an die mit der Sowjetunion verbündeten Armeen der Antihitlerkoalition, die Westeuropa befreiten, und an die antifaschistischen Widerstands- und Partisanenbewegungen in Ost- und Westeuropa wie auch in Deutschland selbst, die unter unsäglichen Opfern einen unschätzbaren Beitrag zur Niederringung des deutschen Faschismus leisteten.
Gedenken im Treptower Park ist immer Mahnung zum Frieden überhaupt. Fünfzig Millionen Menschen bezahlten den Zweiten Weltkrieg mit ihrem Leben, davon 40 Millionen in Europa, davon wiederum mehr als 20 Millionen in der Sowjetunion und mehr als sechs Millionen in Polen. Auch Deutschland, der Aggressor, entrichtete einen unerhörten Blutzoll. Mindestens sechs Millionen Menschen starben – wofür? Sie starben an den Fronten, starben zu fast einer halben Million im Bombenhagel und zu 200.000 im faschistischen Terror.
Und mit all dem noch lange nicht genug. Es ist der 18 Millionen Menschen zu gedenken, die in die faschistischen Konzentrationslager verschleppt wurden und dort in ihrer Mehrheit umgebracht wurden; es ist zu gedenken der ungezählten weiteren nach Deutschland verbrachten oder in den okkupierten Ländern geschundenen Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter; es ist zu gedenken der durch den Vormarsch der Wehrmacht millionenfach Entwurzelten und Vertriebenen; und es ist, weil es um Mahnung zum Frieden geht, selbstverständlich auch zu erinnern an all das Leid, das die Deutschen ergriff, als der Krieg an seinen Ausgangspunkt zurückkehrte.
Der 8. Mai 1945 war ein Tag der Befreiung, und er bleibt es. Er ist als ein historisches Datum in das Gedächtnis der Menschheit eingeschweißt, benennt eine Zeitenwende, die die ganze Welt erfasste, bis heute ihre Wirkung entfaltet und auch in die Zukunft wirken wird. „Der heutige Tag“, sagte der große Dichter Heinrich Heine in der Tradition des großen Philosophen Baruch Spinoza, „ist ein Resultat des gestrigen. Was dieser gewollt hat, müssen wir erforschen, wenn wir zu wissen wünschen, was jener will.“ Der 8. Mai 1945 war Befreiung von Krieg und Faschismus; in seiner unmittelbaren Folge kam es am 26. Juni 1945 in San Francisco zur Gründung der UNO, der Vereinten Nationen, und am 24. Oktober 1945 zum Inkrafttreten ihrer bis heute gültigen Charta.
Der 8. Mai bleibt auch dann ein Gedenktag für immer, wenn er wie in diesem Jahr und schon im Jahr zuvor in Zeiten eines Krieges – und zwar sogar eines Krieges auf sowjetischem Territorium – fällt. Bedenken wir immer: Das Ehrenmal im Treptower Park ist ein sowjetisches, und es steht in Deutschland – dem Land, dessen Armeen 1941 dieses sowjetische Territorium gnadenlos besetzten, die auf ihm zahlreich lebenden Jüdinnen und Juden, auch Sinti und Roma mit grausamer Zielstrebigkeit aufspürten und vernichteten und für die anderen dort lebenden Einwohnerinnen und Einwohner, die sie – egal, ob es Ukrainerinnen oder Ukrainer, Russinnen oder Russen, Weißrussinnen oder Weißrussen, Polinnen oder Polen waren – unterschiedslos zu „Untermenschen“ stempelten, nur eine einzige „Zukunft“ bereit hielten: die der ewigen Erniedrigung und lebenszerstörenden Ausbeutung.
Das Treptower Ehrenmal ist ein Mahnmal für den Frieden. Wann könnte diese Mahnung dringlicher sein als im Krieg. Wenn etwas gelernt werden kann aus dem Zweiten Weltkrieg, von dessen Ende dieses Mahnmal kündet, dann doch dies: Die Waffen nieder!
Aber da ich diese Zeilen verfasse, weiß ich auch: Der Krieg in der Ukraine spaltet. Spaltet auch die Menschen in Deutschland, die den Krieg und den Weg zum Frieden auf sehr unterschiedliche Weise betrachten. Umso stärker bin ich der Überzeugung: Jeder weitere Kriegstag in der Ukraine ist – wie jeder weitere Kriegstag in den anderen Kriegen dieser Welt – ein Kriegstag zu viel. Jeder weitere Kriegstag fordert neue Menschenleben, zerstört Gesellschaften, vergiftet das Zusammenleben, hinterlässt tiefe Spuren bei den heute Lebenden wie auch bei ihren Kindern und Kindeskindern und trägt den Keim unabsehbarer Eskalation in sich.
Deshalb sage ich: Der 8. Mai, der Tag der Befreiung vom Faschismus, mahnt mehr denn je zum Frieden. Zu einem Frieden, der mit einem Waffenstillstand beginnen und ausgehandelte Dauerhaftigkeit in sich tragen muss.