Still not loving Police! Für eine progressive LINKE-Polizeipolitik
- linXXnet
Wer in Deutschland die Polizei kritisiert, braucht ein dickes Fell und optional guten Rechtsbeistand, falls etwa der Bundesinnenminister deswegen wieder einmal Strafanzeigen schreiben lässt: ein Befund, der sich trotz aller Skandale der letzten Jahre ungebrochener Aktualität erfreut. Selbst, als vor anderthalb Jahren im Zuge der großen Black-Lives-Matter-Demonstrationen die Diskussion über rassistische Strukturen innerhalb der deutschen Polizei so ergebnisoffen wie selten zuvor schien, war die öffentliche Debatte doch immer geprägt von geradezu grotesken Annahmen über das Verhältnis von Polizei und Gesellschaft und die wünschenswerte Rolle der Polizei im lebensweltlichen Alltag der von ihr kontrollierten Menschen.
Deutsche Verhältnisse – Polizeisupport von links
Als die SPD-Co-Vorsitzende Saskia Esken den deutschen Sicherheitsbehörden im Juni 2020 einen „latenten Rassismus“ attestierte – eine Einschätzung, die zweifelsohne für die deutsche Mehrheitsgesellschaft so treffend ist, wie sie selbstverständlich auch für die Polizei gilt – schlug ihr quer durch alle Bundestagsparteien harscher Widerspruch entgegen, auch aus der LINKEN heraus. So bediente etwa der Co-Fraktionsvorsitzende Dietmar Bartsch das konservative Narrativ des „Generalverdachts“ gegen die Polizei, der mit Eskens Kritik vermeintlich verbunden sei.
An diesem parteiübergreifenden Abwehrreflex selbst gegen vorsichtigste Polizeikritik zeigt sich deutlich, dass die Polizei in Deutschland einerseits als unfehlbar, andererseits als stetig wehrloser werdendes Opfer inszeniert wird, welches gesellschaftlicher Solidarität bedürfe. Diese Stilisierung der Polizei führt dazu, dass jede fundierte Kritik außerhalb des demokratischen Diskurses gestellt wird. Umso mehr sollte sich eine progressive LINKE einer solchen Einengung des Diskurses selbstbewusst entgegenstellen. Nicht hilfreich ist es jedenfalls, konservativen Geiferern zu sekundieren, welche einzig das Ziel verfolgen, eine kritische Haltung gegenüber polizeilichem Handeln mit einer staats- und demokratiefeindlichen Haltung gleichzusetzen.
Eine sich vor notwendiger Polizeikritik wegduckende LINKE hingegen verweigert sich gleichzeitig einer progressiven Positionierung zu einem großen Problem. Ein Problem, welches viele Menschen ständig in ihrem Alltag beeinträchtigt, vor allem aber als kriminell oder gefährlich markierte Menschengruppen täglich betrifft. Dies soll nachfolgend am Beispiel der Stadt Leipzig illustriert werden.
Außerdem wollen wir Wege aufzeigen, wie eine progressive Polizeipolitik von Links aussehen kann – im Zusammenspiel von evidenzbasierter Polizeikritik, Zusammenarbeit mit lokalen Akteur:innen aus Zivilgesellschaft und linker Bewegung und emanzipativer Aktivierung der Menschen in von polizeilichem Agieren besonders beeinträchtigten Lebenswelten.
Nicht zuletzt geht es um die Frage, ob die Polizei eine Akteurin sein soll, die qua starker Stellung demokratischer Kontrolle weitestgehend entzogen bleibt, aber gesellschaftlich tonangebend und definitionsmächtig ist. Letztlich also darum, ob eine Linke es zulassen will, dass die Gesellschaft ordnungspolitisch überformt wird. Wir meinen: Nein.
Die Polizei Sachsen als politische Influencerin
In tagtäglicher Regelmäßigkeit findet fragwürdiges polizeiliches Handeln in Sachsen seinen Weg in die medialen Sphären des Landes, wo dieses inzwischen häufig nur noch gleichgültig als makabrer running gag aufgenommen wird. Mehr als in jedem anderen Bundesland zeichnet sich die CDU-geführte sächsische Innenpolitik durch eine Untätigkeit gegenüber rechten Strukturen in der Gesellschaft und Fehlverhalten der Polizei aus, während gleichzeitig eine fast schon skurrile Dämonisierung linker Zivilgesellschaft, zumeist reduziert auf das omnipräsente Schlagwort „Connewitz“, betrieben wird.
Ein prominentes Beispiel für das Handeln der sächsischen Polizei als politische Influencerin markierte der Jahreswechsel 2019/20, als die Polizeidirektion Leipzig nach einer eskalierten Situation am Connewitzer Kreuz mehrere Falschinformationen publizierte, die den Vorfall schließlich medial als ein Ereignis scheinbar nationaler Tragweite erscheinen ließen. Spätere Offenlegungen, dass etwa ein lokaler Eingriff am Ohr zu einer „Not-OP“ eines Polizisten umgedichtet worden war, hatten auf die anschließenden politischen Verwerfungen keinen Einfluss mehr. Die Nennung des vollen Namens eines Menschen in einer Polizeipressemitteilung, der via Twitter Kritik an der Polizei geäußert hatte, wurde vom Verwaltungsgericht Leipzig 2021 als rechtswidrig klassifiziert.
Das Renommee der Polizei in der breiten Medienlandschaft als „privilegierte Quelle“ hat dadurch freilich keinen Schaden genommen. Auch weiterhin kann die Polizei in ihrer Funktion de facto „Realität setzen“, solange sich ihre Perspektive häufig medial als „faktische Wahrheit“ wiederfinden wird. Das Anzweifeln polizeilicher Stellungnahmen erscheint dagegen stets dubios, während auch in juristischen Kontexten die Aussagen von Polizist:innen als besonders glaubwürdig gelten. Der Grund dafür: Die über alle Parteigrenzen hinweg betriebene Stilisierung der Polizei als rechtschaffene Märtyrerin, der mit Solidarität und Respekt begegnet werden müsse.
Die Polizei als präventives Überwachungsorgan
Neue Polizeigesetze, die eine Militarisierung und weitere massive Kompetenzerweiterungen der Polizei flankieren, sind innerhalb der vergangenen Jahre in vielen Bundesländern beschlossen worden, so auch in Sachsen. Hierdurch sind präventive Eingriffskompetenzen im Sinne der so genannten „Gefahrenabwehr“, deren Ausmaß bereits seit Ende des vergangenen Jahrhunderts stetig zugenommen hatte, nochmals massiv erweitert worden. Dabei ist klar: Wo die Polizei aus rein präventiven Gründen mehr Präsenz zeigt, wird sie auch mehr Kriminalität feststellen, die wiederum zu mehr Polizeipräsenz führt, welche in Reaktion auf die verstärkte Polizeipräsenz wiederum Resonanzstraftaten befördert.
„Gefährliche Orte“ und Waffenverbotszonen sorgen dafür, dass rassifizierte Menschen im Alltag stetige Einschüchterung und Kontrolle erfahren oder wohnungslose, deklassierte Menschen von bestimmten Orten vertrieben und schikaniert werden. Die Polizei hat einen großen Anteil an der Konstruktion von Sicherheitsrealitäten, und sie erschafft als quasi unumstrittene Debattenteilnehmerin eigenwillige Widersprüche: Wenn die Polizei einmal Orte als kriminell markiert hat, gilt es als Erfolg, wenn dort nichts passiert, weil die Polizei dies ja verhindere. Wenn dort etwas passiert, ist es trotzdem ein Erfolg, weil es die Notwendigkeit einer Dauerpräsenz der Polizei schließlich beweise. Am Ende ist es auf der migrantisch geprägten Leipziger Eisenbahnstraße, am Hauptbahnhof oder im linksalternativen Connewitz egal, was passiert, die Polizei scheint unverzichtbar und erhält unverbrüchliche Rückendeckung.
Forderungen, eine Staatsmacht müsse sich für jeden Eingriff in die Gleichheit, Bewegungsfreiheit und Privatsphäre der Bürger:innen rechtfertigen, welchen es selbstverständlich zustehe, diese Eingriffe kritisch zu hinterfragen und diese größtmöglich kontrollierbar und transparent nachverfolgbar zu gestalten, können auf dieser Basis kurzerhand staatsfeindlicher Ambitionen verdächtigt werden. Das Gerede vom „Generalverdacht“ gegen die Polizei ist der Mörtel in der Blue Wall of Silence.
Klare Kante gegen die Generalgutgläubigkeit
Was aber tun gegen die schier unüberwindbare polizeiliche Immunität vor Kritik und Transparenz? Wie kommen wir zu einem offenen Diskurs, der eine demokratische Kontrolle der Polizei offensiv einfordert und, vor allem, endlich wirkmächtig umsetzt?
Wir als linXXnet haben uns in Leipzig für drei wesentliche Schwerpunkte entschieden: Erstens, die mediale Hegemonie der Polizei nicht hinzunehmen, sondern tendenziöse polizeiliche Kommunikation selbstbewusst und möglichst evidenzbasiert in Zweifel zu ziehen. Hilfreich dafür ist eine in Leipzig ausgeprägt investigative Medienlandschaft, die sich in vielen Fällen die Mühen selbstständiger Recherche macht und nicht ungeprüft polizeiliche Darstellungen vervielfältigt.
Ein zweiter Pfeiler erfolgreicher LINKER Polizeipolitik ist eine enge Zusammenarbeit mit der außerparlamentarischen linken Zivilgesellschaft, deren Arbeit von parlamentarischen Ressourcen profitieren kann und die wiederum für parlamentarische Arbeit unverzichtbare Vorschläge, Organisierungspotenziale und Expert:innenwissen einbringen.
Den dritten Schwerpunkt markiert eine Aktivierung der Menschen vor Ort. Seit dem Sommer 2020 und den sich mehrenden rechten Skandalen innerhalb der Sicherheitsbehörden gibt es nicht wenige Menschen, die bereit sind, polizeiliche und konservative Narrative von Sicherheit zu hinterfragen – vor allem dann, wenn sie selbst zu Unrecht als Staatsfeind:innen oder Gewaltsympathisant:innen markiert werden.
Erfolgreiche Polizeikritik heißt Organizing
Als linXXnet versuchen wir, das Thema Polizeikritik möglichst vielfältig zu bespielen, um verschiedene Milieus zu erreichen. Aus unserem Umfeld gibt es sowohl das Linksdrehende Radio, das regelmäßig lokale Multiplikator:innen zu problematischem Agieren der sächsischen Polizei interviewt, als auch die Website woeller-ruecktritt.de, eine interaktive Sammlung der Skandale um den sächsischen CDU-Innenminister Roland Wöller. Zudem haben wir als linXXnet über das gesamte Jahr 2021 hinweg eine Online-Kampagne zur Polizei unter dem Slogan „Still not loving police“ durchgeführt, um kritische Stimmen zur Polizei zu bündeln und die Kritik an der Institution Polizei wieder als demokratische Selbstverständlichkeit zu platzieren.
Zuletzt haben wir in Leipzig auch durch Diskussionsveranstaltungen den Fokus auf die Polizei gerichtet: im Dezember 2019 zu utopischen Alternativen zum staatlichen Gewaltmonopol und im vergangenen November zur Polizei als politischen Akteurin, inklusive eines Vertreters der Gewerkschaft der Polizei (GdP) auf dem Podium – denn natürlich sollte auch der Dialog zumindest mit reflektierten Vertreter:innen der Polizei fester Bestandteil einer linken Positionsfindung sein.
Als ein gelungenes Beispiel unseres mehrdimensionalen Ansatzes ist die Organisierung von Menschen im Leipziger Süden in Reaktion auf ständige nächtliche Polizeihubschrauberflüge im Sommer 2020 hervorzuheben. Nach einem offenen Brief an den damaligen Leipziger Polizeipräsidenten Torsten Schultze im Namen der betroffenen Menschen entstand ein stadtweiter Diskurs über die Notwendigkeit der Flüge, in dessen Rahmen sich die Polizei medial rechtfertigen musste.
Durch zahlreiche parlamentarische Anfragen konnten wir die polizeilichen Hubschrauberflüge statistisch erfassen und transparent kommunizieren. Eine Gruppe von Menschen aus den betroffenen Stadtteilen, die sich in Reaktion auf das ständige Hubschrauberkreisen zusammenfand, detektiert seitdem Flugbewegungen über dem Leipziger Süden in Echtzeit und kann damit nicht nur polizeiliche Hubschrauberflüge via Liveticker kenntlich machen, sondern eben auch automatisch für Verständnis sorgen, wenn der nächtliche Hubschrauberlärm durch einen medizinischen Rettungsflug verursacht wird. Die polizeilichen Flugbewegungen über dem Leipziger Süden sind nach den verschiedenen Interventionen jedenfalls kontinuierlich zurückgegangen.
Für eine progressive LINKE-Polizeipolitik
Unser Vorgehen funktioniert natürlich nicht überall. Für Städte mit einer geringeren Resonanz aus der Zivilgesellschaft braucht es ebenso andere Ansätze wie besonders für den ländlichen Raum. Umso wichtiger ist es, dass die DIE LINKE sich programmatisch intensiv mit der Polizei befasst, progressive Vorschläge aus Wissenschaft und Bewegung aufgreift und diese auch glaubwürdig kommuniziert. Dazu gehört, sich in der öffentlichen Diskussion nicht mehr ohne faktischen Grund in Anbiederung an schiefe Diskursleitplanken in unverbrüchliche Polizeisolidarität zu versteigen, sondern vielmehr eine dezidiert kritische Haltung zum nicht mehr ganz so neuen Autoritarismus von Polizei und Sicherheitsbehörden zu entwickeln.
Überdies haben wir als LINKE in mehreren Landesregierungen auch unmittelbaren Einfluss darauf, wie sich die Arbeit der Polizei weiterentwickelt. Hier braucht es ein glaubwürdiges Einstehen für grundlegende Reformen im Sinne einer selbstverständlichen innerpolizeilichen Fehlerkultur und größtmöglicher gesellschaftlicher Kontrolle und Transparenz. Wo sie noch nicht umgesetzt sind, sollten eine anonymisierte Kennzeichnungspflicht, Quittungen bei Personenkontrollen und von der Regierung unabhängigen Beschwerdestellen mit Akteneinsichtsbefugnissen, sowie ein explizites Verbot von Racial Profiling und verbindliche Regeln für polizeiliche Presseinformationen ein Mindeststandard sein.
Kurzfristig sollten wir zudem für eine Demilitarisierung und Abrüstung der Polizei eintreten und dem konservativen Narrativ des Präventivstaats, der verspricht, jegliches lebensweltliches Risiko kontrollieren zu können, eine freiheits- und bürger:innenrechtsfundierte Position entgegenstellen.
Zuletzt müssen wissenschaftliche Forschung zu Polizeibediensteten auch nicht-polizeilichen Hochschulen ermöglicht und die Diversität der Polizei durch interne Förderung für und gezieltere Werbung um Frauen* und migrantisierte Personen gestärkt werden.
All diese Reformen unterstützen auch die kritischen Stimmen innerhalb der Polizei, die so dringend notwendig sind, um einen innerbehördlichen Wandel hin zu einer offenen Fehlerkultur und transparenten Arbeitsweise einzuleiten. Ihnen sollte eine solidarische LINKE den Rücken stärken, statt weiter Worte über populistische Freizeitpolizisten wie Rainer Wendt zu vergeuden.
Sicherheit ohne Polizei
Langfristig muss sich eine LINKE, die ihre eigenen Ziele ernst nehmen will, natürlich weiterführendere Gedanken machen, wie Polizei und öffentliche Sicherheit in einem demokratischen Sozialismus organisiert werden sollten. Dabei darf nicht vergessen werden, dass der Polizei seit ihrer Etablierung die Rolle zukam, die Herrschaft der besitzenden Klassen zu zementieren und die Besitzlosen zu disziplinieren. Im Lichte dieser Kernaufgabe stellt sich die Frage, inwieweit bloße Reformen der Polizei überhaupt dazu in der Lage sind, uns einer diskriminierungsfreien Organisation von Sicherheit näherzubringen.
Dennoch bedarf es selbstverständlich auch in einer nicht auf Klassengegensätzen beruhenden Gesellschaft einer Organisation, die in Notsituationen die öffentliche und persönliche Sicherheit gewährleisten kann. Abolitionistische Ansätze, wie von CopWatch Leipzig in einem „Konzept zur Abschaffung der Polizei in Deutschland“ vorgestellt, können hierfür Ideen liefern. Sie zielen darauf ab, die Polizei bzw. deren Nachfolgebehörde auf eine einzige Kernaufgabe zu reduzieren: der Intervention und Aufklärung bei klar umrissenen Gewaltdelikten. Alle anderen Formen kriminalisierten Verhaltens könnten demnach anders gelöst werden: durch ein gesichertes Existenzminimum für alle, Entkriminalisierung von Drogenkonsum und professionelle psychosoziale Einsatzteams zur Deeskalation zwischenmenschlicher Konflikte.
Egal unter welchen gesellschaftlichen Bedingungen: Unser Ziel als LINKE sollte es sein, dass soziale und gesellschaftliche Konflikte grundsätzlich durch die Zivilgesellschaft selbst und nicht ordnungs- und sicherheitspolitisch gelöst werden. Nur wir selbst können Vorschläge dafür entwickeln, solidarische und gewaltlose Möglichkeiten der Gewährleistung kollektiver Sicherheit praktisch zu ermöglichen, anstatt auch in Regierungsbündnissen mit linker Beteiligung ideenlos reaktionäre Sicherheitskonzepte fortzuschreiben. Es ist höchste Zeit, endlich damit anzufangen.
Das linXXnet ist ein offenes Projekt- und Abgeordnetenbüro in Leipzig mit Standorten in den Stadtteilen Connewitz und Lindenau. Die Büros sind zentraler Arbeitsort für mehrere Abgeordnete der LINKEN, Plenumsraum für Politgruppen, Copyshop, Transpilager, Veranstaltungslocation und vieles mehr. Hinter den Büros steht ein Kollektiv aus gut 20 Menschen in und bei der LINKEN – manchmal aber auch ganz weit weg von ihr – die gemeinsam diesen Text verfasst haben.