Aufrüstung löst kein einziges Problem

Kehrt der Kalte Krieg zurück? Übung der Bundeswehr 1984

Fast unisono wird in der deutschen Öffentlichkeit eine starke Aufrüstung der Bundeswehr und der europäischen NATO-Staaten insgesamt gefordert, um eine angeblich entstehende Sicherheitslücke zu füllen. Daran ist so ziemlich alles falsch. Die Sicherheit Europas ist nicht in erster Linie durch das russische Militär bedroht, sondern durch die katastrophalen Folgen der Erderwärmung (1). Russland ist zwar für den Angriffskrieg auf die Ukraine verantwortlich, aber eine weitere Westexpansion ist ein absolut unwahrscheinliches Szenario (2). Frieden kann in Europa und global nur durch Verhandlungen und durch die Stärkung friedlicher Streitbeilegungsmechanismen gefördert und erhalten werden (3).

1. Die Bedrohungen der europäischen Sicherheit

Allein in Deutschland sind nach einer Studie im Auftrag der Bundesregierung (https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/kosten-klimawandel-2170246[1]) von 2000 bis 2021 mindestens 145 Mia. € Schäden durch die Erderwärmung entstanden. Darin sind gesundheitliche Beeinträchtigungen und Todesfälle durch Hitze oder Überschwemmungen noch gar nicht berücksichtigt, auch nicht allgemeine Verschlechterungen des Umweltzustandes. Je nach dem Fortschreiten des Klimawandels werden die zukünftigen Kosten bis 2050 auf zwischen 280 und 900 Milliarden Euro geschätzt. In den Mittelmeerländern werden die Schäden durch die zunehmende Trockenheit noch viel größer sein und z.B. die landwirtschaftliche Produktion, von der auch Deutschland abhängig ist, weiter beeinträchtigen.

Deshalb wäre es notwendig, sehr viel mehr in Maßnahmen zur Reduktion von Treibhausgasemissionen zu investieren, wie z.B. den Ausbau der Bahn und des ÖPNV, den Ausbau der erneuerbaren Energien für die Strom- und Wärmeerzeugung oder den weiteren Ausbau der Stromnetze. Alle diese Maßnahmen erfordern ein enormes Investitionsvolumen, das nicht allein durch den Abbau von Subventionen für fossile Energieträger, insbesondere zugunsten des Autoverkehrs, finanziert werden kann. Auch die Erhöhung der Preise für Treibhausgasemissionen durch die Ausweitung des Zertifikatehandels wird nicht ausreichen, da ein erheblicher Teil der Einnahmen für einen sozialen Ausgleich erforderlich ist, weil sonst die Spaltung der Gesellschaft vertieft wird und die notwendige Akzeptanz nicht zu erreichen ist.

Kurzum: die Erderwärmung, deren zunehmend katastrophale Folgen absolut sicher eintreten werden und nur noch abgemildert werden können, ist die wichtigste Bedrohung für die Menschen in Deutschland und Europa. Wir müssen alle finanziellen Ressourcen mobilisieren, um ihr entgegenzuwirken, sei es durch Steuererhöhungen für die Reichen, sei es durch Verschuldung. Jeder Euro für totes Militärgerät wird dagegen fehlen, egal wie es finanziert wird.

2. Die Überzeichnung der Bedrohung durch Russland

Die Annexion der Krim, die Unterstützung der Abspaltung der „Volksrepubliken“ Donezk und Luhansk und erst recht der großangelegte Angriff auf die gesamte Ukraine im Februar 2022 waren und sind völkerrechtswidrig. In ihrem Rahmen haben die russischen Truppen schwerwiegende Kriegsverbrechen und andere Menschenrechtsverletzungen begangen, in deren Konsequenz ein Haftbefehl des Internationalen Strafgerichtshofs gegen Putin ausgestellt wurde. Ebenso widersprechen die Besetzung von Teilen Georgiens und von Transnistrien dem völkerrechtlichen Interventionsverbot.

Allerdings gibt es in allen diesen Konstellationen eine komplizierte Vorgeschichte, die mit der Auflösung des sowjetischen Vielvölkerstaates zu tun hat, die in vielen Nachbarstaaten Russlands dazu geführt hat, dass die russischsprachige Bevölkerung zu einer Minderheit wurde. Diese Probleme rechtfertigen wohlgemerkt keine kriegerischen Handlungen, aber sie gehören zu einer historisch informierten Erklärung der Vorgänge. Dagegen hat auch die Sowjetunion nur in einem einzigen Fall einen Nachbarstaat überfallen, der nicht zu dem bereits 1914 von Russland beherrschten Gebiet gehörte. Es handelte sich um den Einmarsch in Afghanistan im Jahr 1979, der bekanntlich schon 1989 wieder beendet wurde, weil er extrem unpopulär war. Er hat möglicherweise sogar maßgeblich zum Zerfall der Sowjetunion beigetragen.

Dagegen hat Russland noch nie einen mittel- oder gar westeuropäischen Staat angegriffen. Es ist eine abenteuerliche Vorstellung, dass das russische Militär, das in mehr als drei Jahren die viel kleinere Ukraine nicht besiegen konnte, ein Land wie Deutschland erfolgreich angreifen und besetzen könnte, selbst wenn man vom jetzigen Zustand der Bundeswehr keine allzu hohe Meinung hat. Es gäbe hierfür keinerlei historisch ableitbare Begründung und auch keinerlei andere Rechtfertigung, für die Russland Unterstützung durch irgendein anderes Land auf der Welt (außer vielleicht Nordkorea) finden könnte. Nur wer insgeheim das Märchen vom bösen Russen weiterträgt oder die Interessen der Rüstungsindustrie vertritt, kann auf eine solche rationale Analyse verzichten.

Viel gefährlicher ist im Übrigen die innere Aushöhlung unserer Demokratie durch Putins Alliierte in den Parteien AfD und teilweise auch BSW, die behaupten, dass sie sich für den Frieden einsetzen, in Wirklichkeit aber eine neue Abhängigkeit von den russischen Bodenschätzen fördern wollen. Gegen diese Gefahr hilft aber nur, wenn die Parteien der sog. Mitte aufhören, den rassistischen Narrativen dieser Parteien nachzulaufen, wonach die sog. irreguläre Migration das größte gesellschaftliche Problem darstellt. Die Aufrüstung hilft dagegen so wenig wie gegen andere Desinformationskampagnen.

3. Frieden durch Kooperation

Die internationalen Beziehungen waren schon immer durch ökonomische und strategische Interessengegensätze gekennzeichnet, die potentiell kriegsauslösend sind. Seit dem 19. Jahrhundert hat sich aber die Erkenntnis durchgesetzt, dass diese Konsequenz keineswegs schicksalhaft gegeben ist, sondern dass es Mechanismen der internationalen Kooperation geben muss, um den Ausbruch von neuen kriegerischen Auseinandersetzungen zu verhindern. Von zentraler Bedeutung ist die friedliche Streitbeilegung, sei es durch bi- oder multilaterale Verhandlungen, sei es durch die Intervention des UN-Sicherheitsrates, sei es durch die internationale Gerichtsbarkeit.   

Da der Sicherheitsrat durch das Vetorecht der ständigen Mitglieder in praktisch allen großen Streitigkeiten ausfällt, müssen andere Verhandlungsforen geschaffen werden. Für Europa sollte die OSZE diese Funktion übernehmen, deren Vorläufer KSZE ab 1975 sogar die Ost-West-Teilung Europas relativiert hatte. Sie wurde nach 1990 als Organisation der kollektiven Sicherheit geschaffen, die alle europäischen Staaten umfasst. Allerdings hat die NATO dieses Konzept der gemeinsamen Sicherheit nie wirklich ernst genommen, sondern ist in Europa weiter expandiert und hat sogar im Kosovo einen Sezessionskrieg aktiv unterstützt, was von Russland als Affront aufgefasst werden musste. Deshalb ist es kein Wunder, dass die OSZE den Ausbruch des Konflikts in der Ostukraine nicht verhindern konnte.

Das heißt aber nicht, dass das Grundkonzept falsch ist. Wenn alle europäischen Staaten an den Verhandlungstisch zurückkehren und ergebnisoffen verhandeln würden, könnte – möglicherweise mit externer Vermittlung – auch eine halbwegs tragfähige Lösung für die Konflikte im postsowjetischen Raum gefunden werden. Wenn dadurch ein Mindestmaß an Vertrauen wieder aufgebaut würde, wie es sogar im Kalten Krieg möglich war, könnten und sollten auch Verhandlungen über eine reziproke Abrüstung erfolgreich geführt werden, denn auch Russland kann kein Interesse an immer höheren Militärausgaben haben.

Schließlich gehört eine Stärkung des Internationalen Gerichtshofs, dessen Einrichtung schon eine der zentralen Forderungen der globalen Friedensbewegung vor dem ersten Weltkrieg war, zu den wesentlichen Elementen einer funktionierenden globalen Ordnung. Deshalb ist es auch keine Anmaßung, sondern ein Zeichen der Stärke dieser Institution, dass sie schon mehrfach angerufen wurde, um im Nahostkonflikt zu intervenieren. Gerade das Grundgesetz hat im Jahr 1949 sehr auf diese Form friedlicher Konfliktlösung gesetzt und den Beitritt Deutschlands in Art. 24 Abs. 3 GG festgelegt. Es würde gerade Deutschland gut anstehen, die noch bestehenden Vorbehalte, die Auslandseinsätze der Bundeswehr als Gegenstand von Verfahren vor dem IGH ausschließen, aufzuheben und alle laufenden Verfahren nach Kräften zu unterstützen. Dagegen wäre eine offene Missachtung von Haftbefehlen des Internationalen Strafgerichtshofs ein fatales Signal. Eine regelbasierte Ordnung funktioniert nur, wenn ihre Institutionen geachtet werden.

Die Linke sollte sich gar nicht auf die Prämissen der aktuellen Aufrüstungseuphorie einlassen, sondern eine nüchterne Analyse von realen und fiktiven Bedrohungen vornehmen. Dann ist eine Ablehnung jeder zusätzlichen Ausgabe für die Bundeswehr keine pazifistische Träumerei, sondern eine dringend notwendige Erinnerung an die richtigen Prioritäten.

Links:

  1. https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/kosten-klimawandel-2170246